Der Zölibat ‑ eine apostolische Tradition? (1)

In der öffentlichen Diskussion der letzten Wochen um Reformen in der katholischen Kirche stand seit dem Vorstoß führender CDU-Politiker die Frage des Zölibats im Vordergrund. Die ablehnende Reaktion Kardinal Brandmüllers hat unter anderem behauptet, es sei gesicherte Forschungsmeinung, dass der Zölibat eine apostolische Tradition sei. Für einen Neutestamentler ist das eine erstaunliche Einschätzung. Wenn von Werken der »Zölibatsforschung« gesprochen wird, die diese Einschätzung stützten, dürfte vor allem an das Buch von Stefan Heid gedacht sein: Zölibat in der frühen Kirche, Paderborn 1997; 3. Auflage 2003). Es lohnt also, den Argumentationsgang zu betrachten, der sich auf die neutestamentlichen Zeugnisse bezieht. Der erste Teil befasst sich mit der Jesus-Tradition.


Das Beispiel Jesu

Hat Jesus selbst ehelos gelebt? Die Frage ist umstritten, weil zum Familienstand Jesu nichts ausdrücklich überliefert ist. Es wird nirgends in der urchristlichen Tradition gesagt, Jesus sei verheiratet gewesen; aber auch nicht, er habe keine Frau gehabt. Ein Schweigen ist immer mehrdeutig: Manche erklären es mit der Tatsache, dass Jesus der Norm entsprochen habe und verheiratet gewesen sei. Da eine solche Selbstverständlichkeit kein überlieferungswürdiges Faktum gewesen sei, fänden wir nichts in den Quellen zum Familienstand Jesu. Andere meinen, es sei deshalb nichts von einer Ehefrau Jesu überliefert, weil es eine solche nicht gegeben habe. Das klingt nach einer Patt-Situation in der historischen Rückfrage. Dies trifft aber nur scheinbar zu.

»Bemerkenswerterweise wird seine (=Jesu) Ehelosigkeit überall in der Jesus-Überlieferung vorausgesetzt, aber nirgends ausdrücklich thematisiert. Hier zeigt sich, wie gewisse Dinge gelebter Praxis so selbstverständlich sind, dass sie nicht mehr problematisiert werden.« Schwierig wird eine solche Einschätzung zumal dann, wenn man die Ehelosigkeit Jesu als »auffälliges, zeichenhaftes ... Verhalten« einstuft (Heid, Zölibat 21). Dann kann diese Lebensweise, auch innerhalb der Jesusbewegung, nicht selbstverständlich gewesen sein. Dann wäre zwingend mit Überlieferungen zu rechnen, die jenes auffällige Zeichen deuten und erklären. Es gibt aber nur ein Jesus-Wort, das man als eine solche Deutung verstehen könnte: der »Eunuchen-Spruch«, der ausschließlich in Mt 19,12 belegt ist.

Ob dieses Wort auf den historischen Jesus zurückgeführt werden kann, ist umstritten; ich gehe aber im Folgenden davon aus. Im Matthäus-Evangelium kommentiert Jesus mit diesem Spruch das Wort der Jünger zu seiner Ablehnung der Ehescheidung. Sie meinen: »Wenn es so um die Sache des Mannes mit der Frau steht, ist es nicht gut zu heiraten.« (19,10) Der Zusammenhang des Eunuchen-Spruchs mit diesem Wort ist schwierig und kaum ursprünglich. Und so ist es tatsächlich gut möglich, dass in Mt 19,12 eine Deutung der ehelosen Lebensweise Jesu begegnet: Sie geschieht um des Himmelreiches willen und ist wohl zu verstehen im Zusammenhang seines prophetischen Auftrags für Israel. Eine besonders große Bedeutung scheint dieses Thema im Wirken Jesu freilich nicht gehabt zu haben. Jedenfalls hat es nur diese eine schmale Spur in der Jesus-Tradition hinterlassen.

Und die Jünger?

Dtn 23,2Jes 56,3-5 spricht nicht gegen dieses Urteil). Wenn der »Eunuchen-Spruch« metaphorische Reaktion ist, dann besagt die Tatsache, dass es kein »Verschnittensein auf Zeit« gibt, nichts für die Frage, ob die Jünger auf Dauer sexuell enthaltsam gelebt haben - wenn sich denn der Spruch auch auf sie beziehen sollte.

Ist eine solche Lebensweise, wenn schon nicht aufgrund der Metaphorik, dann »der Sache nach« geboten? Verlangt das Leben als Wanderprediger, sexuell enthaltsam zu sein und deshalb von verheirateten Jesus-Jüngern, dass sie die eheliche Gemeinschaft aufgeben? Die Überlieferungen der Evangelien äußern sich dazu nicht ausdrücklich. Deshalb müssen wir an einer anderen Frage ansetzen: Was sagt die Jesus-Überlieferung zu den Konsequenzen, die sich aus der Nachfolge Jesu für die familiären Verhältnisse der Jünger ergeben? Gewöhnlich wird hier der Bruch betont, und das sicher mit Recht, denn wir finden Sprüche wie Mk 10,28-30 (mit Parallele in Mt 19,27-29; Lk 18,28-30):
»Da fing Petrus an und sagte zu ihm: Siehe, wir haben alles verlassen und sind dir nachgefolgt. Jesus sprach: Wahrlich, ich sage euch: Es ist niemand, der Haus oder Brüder oder Schwestern oder Mutter oder Vater oder Kinder oder Äcker verlässt um meinetwillen und um des Evangeliums willen, der nicht hundertfach empfange: jetzt in dieser Zeit Häuser und Brüder und Schwestern und Mütter und Kinder und Äcker mitten unter Verfolgungen – und in der zukünftigen Welt das ewige Leben.«
Und in Mt 10,37 heißt es (mit Parallele in Lk 14,26):
»Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert; und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich, der ist meiner nicht wert.«
Nicht selten werden diese Aussagen auf einen umfassenden Bruch mit der Familie, einschließlich des Ehepartners, gedeutet (z.B. G. Theißen/A. Merz, Jesus 247; J. Nützel, Faszination 272f). Sicher wird es in manchen Fällen auch zu dieser Konsequenz gekommen sein. Dass es sich dabei aber um eine unabdingbare Voraussetzung für die Nachfolge Jesu handelte, ist unwahrscheinlich. Sieht man sich nämlich in den zitierten Jesus-Worten genauer an, was zurückgelassen wird oder der Beziehung zu Jesus untergeordnet werden soll, so fällt auf: Ehefrauen und Ehemänner gehören nicht dazu. Besitz ist genannt (Haus, Äcker), Familienmitglieder (Brüder, Schwestern, Eltern, Kinder), aber nicht Ehepartner. Allein im Lukas-Evangelium ist in beiden Fällen in den Aufzählungen auch »die Frau« erwähnt (Lk 18,29; 14,26). Stefan Heid wertet dies als »völlig sinn- und sachgerechte Präzisierung«, denn: »Wer Haus und Kinder verläßt, verläßt automatisch auch seine Ehefrau« (Zölibat 23 Anm. 8). Es sei denn, die Ehefrau geht mit! Legt man die Verhältnisse einer Großfamilie zugrunde, ist ein solches Verhalten nicht undenkbar. Die eventuell vorhandenen Kinder fallen nicht ins Nichts. Dass die Großfamilie es nicht begrüßt hat, wenn die Nachfolge Jesu zu solchen Konsequenzen führt, liegt natürlich nahe. Und tatsächlich gibt es auch einen Spruch in der Jesus-Überlieferung, der die von Jesus bewirkte Entzweiung der Familien spiegelt:
»Denkt ihr, dass ich gekommen sei, Frieden auf der Erde zu geben? Nein, sage ich euch, vielmehr Entzweiung. 52 Denn es werden von nun an fünf in einem Haus entzweit sein; drei werden mit zweien und zwei mit dreien entzweit sein: 53 Vater mit Sohn und Sohn mit Vater, Mutter mit Tochter und Tochter mit der Mutter, Schwiegermutter mit ihrer Schwiegertochter und Schwiegertochter mit der Schwiegermutter.« (Lk 12,51-53; Parallele in Mt 10,34-36).
Auch hier fällt auf, dass die Entzweiung nicht im Blick auf den Ehepartner formuliert ist. Zwar ist der Wortlaut nicht frei gebildet, da eine Prophetenstelle aufgenommen wird (Mi 7,6). Daraus entsteht aber kein Gegenargument. Denn wer auf Mi 7,6 anspielt, hätte auch den vorherigen Vers aufgreifen können, wo es heißt:
»Glaubt nicht dem Gefährten, verlasst euch nicht auf den Vertrauten! Vor der, die in deinem Arm liegt, hüte die Pforten deines Mundes!« (Mi 7,5)
Dass im Jesus-Wort nur auf jene Aussagen angespielt wird, die die Entzweiung zwischen den Generationen benennen, fügt sich genau in das bislang gewonnene Bild ein: Auch wenn Jesus selbst wahrscheinlich ehelos gelebt hat, bedeutet Nachfolge Jesu nicht unbedingt Aufgabe der ehelichen Gemeinschaft; zum unmittelbaren Umfeld Jesu gehörten auch Ehepaare (dass manche Jesus-Worte vor diesem Hintergrund ein besonderes Profil gewinnen, zeigt Martin Ebner, Jesus 120-124).

Der erhobene Befund kann im Übrigen auch gut erklären, warum Paulus in 1Kor 9,5 erwähnt, dass Petrus, die Brüder des Herrn und die übrigen Apostel ihre Reisen mit Frauen unternehmen. Sofern sie bereits zur galiläischen Jesusbewegung gehört haben, könnten sie ihre damalige Lebensweise fortgesetzt haben. Dazu bald mehr in einem zweiten Beitrag.


Literatur zum Thema

  • Martin Ebner, Jesus von Nazaret. Was wir von ihm wissen können, Stuttgart 2007 (zum Thema v.a. 120-124).
  • John P. Meier, A Marginal Jew. Rethinking the Historical Jesus, 4 Bände, New York 1991-2009 (zum Thema v.a. Bd. I 332-345). 
  • C.G. Müller, Frühchristliche Ehepaare und paulinische Mission, Stuttgart 2008 (zum Thema v.a. 56-59). 
  • J. Nützel, Die Faszination des Wanderpredigers, in: L. Schenke u.a., Jesus von Nazaret – Spuren und Konturen, Stuttgart 2004, 255-274 (zum Thema v.a. 272f). 
  • G. Theißen/A. Merz, Der historische Jesus. Ein Lehrbuch, Göttingen 1996 (zum Thema v.a. 247.330).
  • M. Tiwald, Wanderradikalismus. Jesu erste Jünger – ein Anfang und was davon bleibt, Frankfurt a.M. 2002 (zum Thema v.a. 212-214).

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Und nimmt man Röm 16,7 noch hinzu, dann wird hier ausdrücklich von einem Apostelpaar gesprochen, die scheinbar gemeinsam ihrer Aufgabe nachgingen. Der männliche Name Junias ist für die Antike nicht bezeugt, Junia jedoch sehr oft.
Gerd Häfner hat gesagt…
@Anonym (23. März, 14:24)

Das ist vollkommen richtig.Ich bin auf Röm 16,7 nicht eingegangen, weil ich mich im ersten Teil auf die vorösterliche Jesusbewegung beschränkt habe. Die Gegebenheiten der ersten urchristlichen Verkündigung sollen in einem zweiten Beitrag besprochen werden.
Anonym hat gesagt…
Dann noch Maria Magdalena als die "Apostelin der Apostel" bei Hippolyt von Rom... Aber wem sage ich das :-) An dieser Stelle möchte ich Ihnen, Herr Häfner, ein großes Lob für diesen Blog aussprechen!! Vielen Dank!
Regina hat gesagt…
Vielen Dank, Herr Häfner, für Ihren einfach excellenten Beitrag in Ihrem Blog! Wenn ich dagegen das überwiegende Gelabere der " Oberen Hirten" so ganz brav und naiv in der römisch-vatikanischen Hochburgtradition höre... und in Bezug auf das Theologen-Memorandum Bischof Overbeck, der da meint, mit seiner Basta-Politik zum Priesterzölibat und Frauenpriestertum einen Dialog (inzwischen zu einem Prozess degradiert !) abwürgen zu können.. es ist zum Austreten !

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