Offener Brief, nicht offener Dialog

Gestern hat Kardinal Joachim Meisner ein Schreiben veröffentlicht, in dem er sein Erschrecken und seine Betrübnis über das Theologen-Memorandum bekundet. Dieser Text beurteile »die Lage der Kirche mit Zustandsbeschreibungen und Forderungen, denen man fast in jedem Punkt widersprechen bzw. Korrekturen entgegensetzen müsste«. Dass dies nur für fast jeden Punkt gelten soll, lässt aufhorchen. Gibt es also doch wenigstens eine Sache, über die man reden kann? Man wüsste es gerne, erfährt aber nichts dazu, denn der Kardinal nimmt den Konjunktiv ernst: Man müsste in fast in jedem Punkt widersprechen, er tut es aber nicht. Oder doch? Die Fortsetzung lautet:
»Dass ich mich dazu äußere, ist bereits ein erster Widerspruch: Denn zum ersten und wichtigsten Dienst des Amtes in der Kirche gehört: die Wahrheit Christi zu verkündigen, 'ob man es hören will oder nicht' (2 Tim 4,2). Diese Verkündigung ist keineswegs nur eine 'biblische Freiheitsbotschaft', sondern in der Kraft des Heiligen Geistes das Weitergeben und Weiterreichen von Wort und Gnade des menschgewordenen Gottessohnes.« 
Also ist der Widerspruch im Auftrag begründet, die Wahrheit Christi zu verkünden. Dies scheint mehr zu sein als »eine biblische Freiheitsbotschaft«. Was es aber ist und worin der Inhalt des Memorandums gegen die Wahrheit Christi oder gegen »Wort und Gnade des menschgewordenen Gottessohnes« verstößt, erfahren wir nicht. 

Das Schreiben des Kardinals betont kräftig die Bedeutung des kirchlichen Amtes, scheint dies aber nicht so zu verstehen, dass damit jeder Dialog in der Kirche verwerflich sei. Zwar »kann man Sorgen und Kritik nicht so einbringen, als ginge es um irgendeine menschliche Institution«; aber ein »fruchtbares innerkirchliches Gespräch« ist deshalb nicht ausgeschlossen. Es kann freilich
»nur dann gelingen, wenn man die Kirche in ihrem tiefsten Wesen bejaht: Sie ist der fortlebende Christus und somit das 'universale Heilssakrament' (2. Vaticanum, Kirchenkonstitution 48).« 
Da nicht ersichtlich ist, inwiefern das Memorandum dem widersprechen sollte, könnte also ein fruchtbares Gespräch beginnen? Nein, denn Kardinal Meisner zieht aus der zitierten grundsätzlichen Bestimmung der Kirche erstaunlich konkrete Analysen, die mit den Aussagen des Memorandums nicht harmonieren. Die gegenwärtige »Krise« (in Anführungszeichen, aber doch auch in den Augen des Kardinals irgendwie existent) wird durch »die Defizite im Glaubenswissen und die weitverbreiteten Mängel im Glaubensleben« gebildet. Das zu benennen ist allerdings noch nicht das eigentliche Anliegen. Die Aussage steht im Nebensatz, die Hauptsache kommt erst noch. 
»Dass es vor allem die Defizite im Glaubenswissen und die weitverbreiteten Mängel im Glaubensleben sind, sollte die Theologen zum Nachdenken bringen, inwieweit gerade auch von einigen in ihren Reihen ein unguter Einfluss auf die Brüder und Schwestern im Glauben feststellbar ist – man werfe nur einen Blick auf manches, was im Religionsunterricht vermittelt wird!« (Hervorhebung von mir). 
Jetzt lugt die Katze schon aus dem Sack: Es geht gar nicht um die Inhalte des Memorandums, es geht um einen Angriff auf die Theologen. 

Dieser Angriff ist als Einladung zur Selbstbesinnung formuliert. Ich bin gewiss nicht frei von Selbstzweifel und vielleicht auch nicht ganz unfähig zur Selbstkritik, aber ich fühle mich etwas überfordert, wenn ich nachdenken soll, ob von mir ein unguter Einfluss ausgeht (und im Blick auf Kolleginnen und Kollegen will ich das nicht tun). Und vollends scheitere ich an dieser Aufgabe, wenn ich dazu »den Blick auf manches« werfen soll, »was im Religionsunterricht vermittelt wird«. Ich habe darauf nur einen äußerst begrenzten Einfluss. 

Entlastung bringt die Erkenntnis, dass es dem Kardinal wahrscheinlich gar nicht darum geht, eine Selbsterforschung der Theologen zu initiieren. Schon der Abschluss des zuletzt zitierten Abschnitts ist aufschlussreich: »man werfe nur einen Blick auf manches, was im Religionsunterricht vermittelt wird!« Adressat dieser Äußerung sind nicht mehr die zum Nachdenken aufgeforderten Theologen, sondern ein unbestimmtes »man«. Die Vermutung, wer gemeint ist, fällt nicht schwer: Gegner des Memorandums, die nicht selten den Zustand des Religionsunterrichts beklagen. Es geht also um Mobilisierung der »Getreuen«. 

Deshalb kann man auch nicht warten, ob auf Seiten der Theologen die angemahnte Selbstbesinnung einsetzt, denn nun steuert das Schreiben auf das eigentliche Ziel zu: 
»Meine größte Sorge kann ich nicht verschweigen: Wie kann ich künftige Priester, Diakone, Religionslehrer und seelsorglich Tätige Lehrern anvertrauen, deren Leben in und mit der Kirche defizitär ist!« 
Jetzt ist die Katze ganz aus dem Sack: Man muss diesen »Memorandums-Theologen« die ihnen übertragene Aufgabe entziehen. Und da es schwierig ist, eine so große Zahl zu ersetzen, läuft die »größte Sorge« des Kardinals« auf eine grundsätzlichere Lösung zu: Es geht gegen die Theologie an staatlichen Fakultäten (einer der kommentierenden Claqueure auf kath.net gibt denn auch einen entsprechenden Rat: Dominik Pallenberg). Deshalb fehlt jede inhaltliche Auseinandersetzung und wird die Aufforderung zum offenen Dialog mit der Beschuldigung beantwortet, die Unterzeichner des Memorandums zeichneten sich durch ein defizitäres kirchliches Leben aus. Woher weiß das der Kardinal? Wurden ihm Offenbarungen zuteil? Gewährt die Amtsgnade so weitreichende Erkenntnis über Menschen, die man nicht kennt? 

Nein, solcher Anspruch steht kaum hinter der Aussage. Eher wird hier das Memorandum (und seine angeblich antikirchliche Haltung) benutzt, um eine unabhängig davon bestehende Vorstellung nach vorne zu schieben: die Loslösung der Theologie aus dem Zusammenspiel von Kirche und Staat. Dass dies ohne argumentativ-inhaltliche Befassung geschieht, lässt erahnen, wie es um die Zukunft der Theologie unter den angestrebten Bedingungen bestellt wäre. 

Oder geht es in dem offenen Schreiben des Kardinals am Ende gar nicht vorrangig um die Theologen, sondern um ein Signal an die Mitbrüder im bischöflichen Amt? Es fällt jedenfalls auf, dass kurz nach dem Abschluss der Frühjahrs-Vollversammlung der Bischofskonferenz, die einen Dialogfahrplan beschlossen hat, ein solches Dokument der Dialogverweigerung erscheint. »Wenn jemand das Bischofsamt anstrebt, so begehrt er ein schönes Werk.« (1Tim 3,1) Dass dieser Satz zur Zeit wahrscheinlich nicht mit der Erfahrungswirklichkeit jedes Bischofs unmittelbar korrespondiert, liegt vielleicht nicht nur an den »Memorandums-Theologen«.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Würde sich der Kardinal einmal die Mühe machen und sich den Religionsunterricht an öffentlichen Schulen anschauen, dann würde er erkenne, dass hier fähige Christen die frohe Botschaft an der Front der modernen Diaspora vertreten statt sich mit goldenen Weihrauchfässchen und Merzedes selbst zu beweihräuchern. Wer wandelt hier eigentlich mehr auf den Pfaden unseres Herrn?
Anonym hat gesagt…
Überfällig wäre eine Dissertation, die einmal die verkündete Theologie des Kardinals dokumentiert und erhellt. Vielleicht würden dann noch mehr Mitchristen hierzulande mitbekommen, unter welch trauriger "Verkündigung des Evangeliums" wir als Getaufte im Bistum Köln leiden - von der Scham jedes/r denkenden Katholikin/en gegenüber andersglaubenden Mitmenschen (angesichts der medialen Kardinals-Beiträge) mal ganz abgesehen.
Alexander hat gesagt…
Es ist erschreckend, welche Äußerungen von Vertretern seitens der offiziellen Kirche getätigt werden: anstelle der Bereitschaft zu offenem Dialog und sachgemäßer Diskussion wird mit Verallgemeinerungen und Vorurteilen hantiert und Pessimismus verbreitet. Derartige Umgangsformen sind gerade für eine Institution wie die Kirche, die einerseits vom Vertrauensvorschuss lebt, an die andererseits aber auch gesteigerte Erwartungen herangetragen werden, nicht gerade rühmlich. Stattdessen beschränkt man sich darauf, eventuelle Missstände zu benennen und zu verallgemeinern, anstelle entsprechende Probleme/Diskussionspunkte konkret in Angriff zu nehmen. Man sucht nicht den persönlichen Dialog mit denjenigen, die man nicht auf dem "rechten Pfad" sieht sondern begnügt sich damit, ÜBER diese zu reden und das auf eine verunglimpfende Art und Weise! Damit präsentiert sich die Institution Kirche bzw. entsprechende Vertreter nicht gerade als menschenfreundlich: denn dazu gehört auch ein Hinhören, Ernstnehmen und die Bereitschaft, sich durch die Hinweise und Argumente Anderer anregen und bereichern zu lassen.

Die Institution sollte dem MENSCHEN dienen und nicht Selbstzweck sein (was nicht mit Beliebigkeit oder einer "alles ist erlaubt"-Mentalität verwechselt werden darf). In diesem Kontext wird auch verständlich, weshalb sich viele (gläubige) Menschen von der Kirche abwenden: derartige Umgangsformen sind gerade im Rahmen des eigenen kirchlichen Anspruchs enttäuschend!

Glaube und Kirche sind zudem KEIN statisches System, auch wenn es einen gewissen "Schatz" an Traditionen gibt, den es zu achten und zu wahren gilt (deshalb, weil darin Erfahrungen, Erkenntnisse und Einsichten aus Jahrhunderten eingeflossen sind). Dies schließt jedoch kritische Rückfragen und die erneute Betrachtung bestimmter Sachverhalte (etwa Zölibat) nicht aus! Die Dynamik des Glaubens und der Kirche zeigt sich schon von ihrer Entstehungszeit an (z.B. Christologie). Solche Auseinandersetzungen innerkirchlicher Art sollte man durchaus nicht scheuen, aber es ist ein ziemlich erschreckendes Indiz, auf welchem Niveau dies (teilweise) geschieht: ob in sachlich-fairem Diskurs oder in persönlich werdender aggressiver Polemik (so wie dies in Bezug auf das Theologen-Memorandum durchaus häufig vorkommt)! Eine Konfrontation der Positionen sollte allerdings gerade in unserer Gesellschaft immer unter kritisch-rationeller Hinsicht erfolgen, und genau das ist vorrangig Aufgabe und Stärke der Theologie als WISSENSCHAFT (im Gegensatz zum "offiziellen Lehramt" und dem Volksglauben). Auch Kirche und Glaube müssen sich in gewissem Ausmaß Vernunftgründen stellen (wenn auch nicht alleinig darauf beschränkt bleiben)! Darin liegt die Chance für Kirche in unserem Gesellschafts-/Kulturraum insbesondere in der aktuellen Diskussion: stellt sie sich den kritisch Anfragen, so hat sie eine Chance, sich auch gegenüber Gesellschaft und Menschen zu öffnen und zuzuwenden (dann wäre sie "katholisch", allumfassend); verweigert sie sich jedoch und zieht sich auf die "Herde der Gläubigen" zurück, dann verfehlt sie ihren Auftrag (sich nämlich für ALLE Menschen einzusetzen) und verpasst die Chance, sich in Auseinandersetzung mit den kritischen Anfragen als so gefestigt und selbstbewusst zu erweisen, dass sie souverän damit verfahren kann und diese nicht fürchten muss. Kirche (und ihre amtlichen Vertreter) darf (dürfen) nicht in eine Haltung der Angst und Abgrenzung verfallen, derartige Bewahrungstendenzen würden dem Fortbestand und der Existenzweise der Kirche nicht dienlich sein!

Schließlich sollte ein gewisser VORBEHALT berücksichtigt werden: letztlich steht alles menschliche Tun und Erkennen unter der Bedingung beschränkter Einsicht (dies gilt für Vertreter der amtlichen Kirche ebenso wie für Theologen als Vertreter des wissenschaftlichen Glaubens und für die "einfachen/normalen Gläubigen"). Daher sollte dies eher zu einer gewissen Zurückhaltung und Demut denn zu allzu weitreichender Festlegung und Einengung ermuntern!

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