Der Zölibat ‑ eine apostolische Tradition? (4)

Im vierten und letzten Teil (hier Teil 1, Teil 2 und Teil 3) werden die Aussagen   besprochen, die sich in den Pastoralbriefen (besonders im 1. Timotheusbrief) für die Frage einer Zölibatspflicht für Amtsträger finden. Gesprächspartner ist wieder Stefan Heid, Zölibat in der frühen Kirche (Paderborn 1997, 3. Auflage 2003).


Die Pastoralbriefe enthalten Bestimmungen, in denen Anforderungen für Amtsträger festgehalten sind: in 1Tim 3,1-7 für Episkopen (Bischöfe), in 1Tim 3,8-13 für Diakone, in Tit 1,6-9 gehen die Amtsbezeichnungen von Presbyter und Bischof ineinander über. In allen drei Abschnitten heißt es, der Amtsträger müsse »Mann einer Frau« sein. Dies wird gewöhnlich so verstanden, dass die Pastoralbriefe vom verheirateten Amtsträger ausgehen und von ihm eine einwandfreie, vorbildliche Eheführung erwarten. 

»Mann einer Frau«
 

Stefan Heid lehnt diese Deutung ab: Eine solche Anforderung wäre trivial, und aus den analogen Bestimmungen zum Anforderungsprofil an eine Gemeinde-Witwe in 1Tim 5,9 (sie muss »Frau eines Mannes« gewesen sein) ergebe sich, dass wir es mit einer klaren Rechtsnorm zu tun hätten, nicht mit vagen Bestimmungen zu vorbildlicher Lebensführung. Und diese Rechtsnorm habe auf die Einzigehe gezielt, also: keine Wiederheirat im Fall des Todes der Ehefrau (vgl. Stefan Heid, Zölibat 38f).

Betrachtet man aber die Anforderungsliste in 1Tim 3,2f im Ganzen, so fiele eine »klare Rechtsnorm« eindeutig aus dem Rahmen.

»Der Episkopos (Bischof) nun muss untadelig sein, Mann einer Frau, nüchtern, besonnen, sittsam, gastfrei, lehrfähig, (3) kein Trinker, kein Schläger, sondern gütig, nicht streitsüchtig, nicht geldliebend.«
Die fragliche Wendung ist eingeordnet in eine recht allgemein bleibende Tugendliste; als Rechtsnorm verstanden wäre sie ein Fremdkörper. Die Auslegung auf eine vorbildliche Eheführung hin passt sich in diesen Zusammenhang am besten ein (s. Lorenz Oberlinner, Pastoralbriefe I, 121, mit Bezug auf Peter Trummer; zu Auslegungsvorschlägen ebd. 118-121). Sicher gehört zu dieser Vorbildlichkeit auch die Einehe. Ob der Verfasser der Pastoralbriefe darauf aber besonders abhebt – also: »Mann nur einer, nicht von mehreren Frauen« –, hängt davon ab, wie man jüdische und heidnisch-hellenistische Ehemoral im Umfeld der Pastoralbriefe beurteilt. Dass dieses Moment deshalb auszuschließen sei, weil »Polygamie für Christen völlig unakzeptabel« war (Stefan Heid, Zölibat 39), ist kein starkes Argument. Die Liste in 1Tim 3,2f ist offensichtlich nicht an den Grenzen des noch oder nicht mehr Akzeptablen orientiert. Immerhin wird ja auch erwähnt, dass der Episkopos kein Trinker und Schläger und nicht streitsüchtig sein darf – und das sind ja auch Selbstverständlichkeiten.

Nötigt dennoch die Parallele in der Aussage zu den Witwen zu einem Verständnis im Sinne des Wiederverheiratungsverbots? Folgt aus 1Tim 5,9 (»eines Mannes Frau«), dass die Gemeinde-Witwe nur einmal verheiratet gewesen sein darf? In der hellenistischen Umwelt lässt sich eine solche Prägung der fraglichen Wendung nicht nachweisen. In Grabinschriften wird die univira gepriesen (»Frau eines Mannes«), dabei ist aber – ohne Bezug auf eine Witwenschaft – lebenslange Treue das Entscheidende. »Das Ideal richtet sich ... gegen Ehebruch sowie die Option der Scheidung« (Ulrike Wagener, Ordnung 175). Es geht also auch hier um eine vorbildliche Eheführung. Und dies stärkt die Auslegung, die in 1Tim 3,2 keine Rechtsnorm erkennt, die einen zum zweiten Mal verheirateten Mann vom Amt des Episkopos ausschlösse.


Weihehindernisse?

Der nächste Schritt in Heids Argumentation besteht darin, die Bestimmungen von 1Tim 3,2f als Weihehindernisse zu deuten. Demnach ist »nicht eine Pflichtenlehre an die Adresse bereits in Dienst stehender Amtsträger« (Stefan Heid, Zölibat 40) angezielt. Es gehe nicht um positive Eignungskriterien, die jeder Anwärter auf das Amt erfüllen müsse, sondern um Irregularitäten: Der solle abgewiesen werden, »der auch nur eine der Bedingungen, die der Katalog nennt, nicht erfüllt« (ebd.). Konsequenz: Der Amtsträger muss nicht verheiratet sein; wenn er es aber ist, darf er nicht mehr als einmal verheiratet gewesen sein. Und entsprechend gilt für die anderen Anforderungen: »notorische Trunksucht, Gewalttätigkeit etc. schließen von der Weihe aus« (ebd.).

Bereits der Charakter der Liste in 1Tim 3,2-4 als ein wenig spezifischer Tugendkatalog macht es unwahrscheinlich, dass hier Ausschlusskriterien formuliert sind. Wie soll man sich das in der Praxis vorstellen: Wer nicht nüchtern oder besonnen ist, kann das Bischofsamt nicht übernehmen? Hindernisse müssten doch etwas konkreter gefasst sein. Vor allem müssten sie negativ formuliert sein. Das trifft streng genommen nur für zwei Elemente in der Liste zu: kein Trinker, kein Schläger. Die Wendungen, die oben mit »nicht streitsüchtig, nicht geldliebend« übersetzt sind, werden im Griechischen durch jeweils ein Wort gebildet (amachos, aphilargyros). Man mag sie logisch als Verneinungen fassen und könnte so zwei weitere Vertreter gewinnen. Dies ändert aber nichts an der Tatsache, dass die Liste in 3,2f nicht als Ausschlussliste angelegt ist. Was positiv formuliert ist, kann nicht einfach zum Ausschlusskriterium erklärt werden. Dass damit dem Text ein fremdes Schema übergestülpt wird, zeigt auch das angeführte Zitat aus Heids Buch: »notorische Trunksucht, Gewalttätigkeit etc. schließen von der Weihe aus«. Darin sind genau die zwei Elemente genannt, die in unserer Liste ausdrücklich negativ gefasst sind (kein Trinker, kein Schläger). Dass sich die übrigen Bestimmungen weit weniger bzw. gar nicht für eine solche Auslegung eignen, wird hinter dem »etc.« versteckt.

Etwas abgesetzt von den besprochenen Bestimmungen - durch die Zwischenbemerkung in 3,5 - erscheint tatsächlich ein klares Ausschlusskriterium: »kein Neubekehrter, damit er nicht, aufgebläht, dem Gericht des Teufels verfalle« (3,6). So ergibt sich folgender innerer Zusammenhang: nach der Charakterisierung, welche Anforderungen an den Episkopos-Anwärter zu stellen sind (»Der Episkopos muss sein ...«: 3,2-4), wird ein Fall genannt, in dem ein Kandidat zurückzuweisen ist, selbst wenn er dem zuvor gezeichneten Profil entspricht: er darf kein Neubekehrter sein. Zum Abschluss wird wieder eine positive Bedingung formuliert: »Er muss aber auch ein gutes Zeugnis haben bei denen, die draußen sind, damit er nicht in übles Gerede und in den Schlinge des Teufels gerät« (3,7).

Zur Klärung scheint mir ein weiterer Hinweis nicht unwichtig. Wenn die Auslegung zutrifft, dass die Wendung »Mann einer Frau« im Rahmen eines Tugendkatalogs auf vorbildliche Eheführung zielt, dann ist diese Wendung nicht so zu verstehen, dass Verheiratetsein die Bedingung für die Zulassung zum Episkopen-Amt wäre, unverheiratete Kandidaten also zurückgewiesen werden müssten. Das läge jenseits der erkennbaren Intention. Aber offensichtlich gehen die Weisungen vom Normalfall des verheirateten Bewerbers aus und verlangen von ihm Bewährung in seiner Rolle als Ehemann, Familienvater und Hausvorstand (s. 3,4f). Mit dieser Rolle wäre eine Wiederheirat im Fall des Todes der Ehefrau durchaus vereinbar.

Zwischenbilanz: Die Anforderungen in 1Tim 3,2-4 benennen nicht Irregularitäten, die die Annahme eines Bewerbers verhindern, sondern den (recht allgemein bleibenden) Erwartungshorizont eines vorbildlichen tugendhaften Lebens, dem der Kandidat entsprechen muss. Weder aus diesem Zusammenhang noch aus der Wendung »Mann einer Frau« für sich betrachtet ist ein Wiederverheiratungsverbot abzuleiten. Zu fragen bleibt aber noch: Was könnte überhaupt der Sinn eines solchen Verbots sein und wie würde sich dies in die Pastoralbriefe einpassen?


Enthaltsamkeitsforderung?

Das Motiv hinter der Anforderung der Einzigehe leitet Stefan Heid aus 1Kor 7 her, und das bedeutet, dass es um die Fähigkeit der Enthaltsamkeit geht: Wer nach dem Tod des Ehepartners wieder heiratet, zeigt dadurch, dass er nicht sexuell enthaltsam leben kann. Diesen Zusammenhang sieht Heid bestätigt in den Ausführungen zu den Witwen (1Tim 5,3-16). Die Abweisung jüngerer Witwen ist in der Erfahrung begründet, dass sie häufig nicht auf Dauer enthaltsam leben können (5,11f); entsprechend sollen die Gemeinde-Witwen den Enthaltsamkeitstest bereits bestanden haben (5,9: nur einmal verheiratet, mindestens 60 Jahre alt). Wenn nun analog vom Amtsträger gefordert wird, er dürfe nur einmal verheiratet gewesen sein, werde auch in seinem Fall sexuelle Enthaltsamkeit erwartet, und zwar im Sinne eines »berufsspezifischen Lebensstil[s]«. Es geht demnach nicht nur um das Verbot der Wiederheirat nach dem eventuellen Tod der Ehefrau. Vielmehr sei »davon auszugehen, daß die Pastoralbriefe von den Kandidaten ab dem Tag ihrer Weihe völlige Enthaltsamkeit erwarten« (Stefan Heid, Zölibat 44).

Dass man die Antwort auf die Frage, warum dem Amtsträger die Wiederheirat untersagt wird, aus 1Kor 7 importieren muss, zeigt schon eine grundsätzliche Schwierigkeit an: die Pastoralbriefe geben offensichtlich keine Auskunft in dieser Frage. Eine Schrift, die in der Fähigkeit zu sexueller Enthaltsamkeit eine Zulassungsbedingung für das bischöfliche Amt erkennen soll, sagt das an keiner Stelle ausdrücklich! Das wäre schon ein recht merkwürdiges Verfahren, wenn der Autor voraussetzen würde, dass der Sinn seiner (nicht einmal eindeutig formulierten) Weisung aus einem Zusammenhang gewonnen werden müsste, der gar nicht von Amtsträgern spricht (1Kor 7). Ein bisschen Klartext wäre in dieser keineswegs nebensächlichen Frage zu erwarten, wenn der Autor sicherstellen will, dass er verstanden wird.

Die Tatsache, dass die Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit nicht ausdrücklich erhoben wird, erklärt Stefan Heid mit dem Charakter der Ausführungen als Weiheausschlusskriterien. Es geht nur darum, »was bereits vor der Weihe darauf schließen läßt, daß der verheiratete Kandidat nach seiner Weihe nicht enthaltsam leben kann« (Zölibat 45). Aus demselben Grund werden, so Heid, auch verwitwete oder jungfräuliche Kandidaten nicht eigens erwähnt, für die das Enthaltsamkeitsgebot aber natürlich genauso gelte. In ihrem Fall lasse sich die Fähigkeit aus ihrem Lebensstand vor der Weihe ableiten.

Dass sich die Liste in 1Tim 3,2f nicht im Sinne von Ausschlusskriterien auslegen lässt, hat sich bereits gezeigt. Deshalb fehlt dem angeführten Argument Heids die Grundlage. Es kann aber auch in sich nicht überzeugen. Immerhin wäre doch zu erwarten, dass der angeblich entscheidende Gedanke ‑ sexuelle Enthaltsamkeit ‑ direkt zur Sprache käme, wenn er eine Zugangsbedingung zum Amt wäre. Aus der Formulierung »Mann einer Frau« ist das ja nicht einmal dann abzuleiten, wenn man sie auf die Einzigehe hin auslegt. Denn warum sollte man bei einem verheirateten Mann, der mit seiner ersten Frau zusammenlebt, »prima facie« davon ausgehen, »daß er zur Enthaltsamkeit fähig ist« (Stefan Heid, Zölibat 45)? Müsste nicht eine bis dahin geführte Ehe darauf schließen lassen, »daß der verheiratete Kandidat nach seiner Weihe nicht enthaltsam leben kann« (ebd.)? Der »Mann einer Frau« ist aber nach 1Tim 3,2 genau der, der für das Bischofsamt geeignet ist. Das bedeutet: Wenn die Fähigkeit zu sexueller Enthaltsamkeit vorausgesetzt würde bzw. die Unfähigkeit dazu ein Ausschlusskriterium wäre, müsste das ausdrücklich zur Sprache kommen.

Ein klärendes Wort in diese Richtung wäre auch deshalb zu erwarten, weil die Forderung nach sexueller Enthaltsamkeit der sonst zu beobachtenden Tendenz der Pastoralbriefe zuwiderläuft. Eine solche Forderung ist gerade Kennzeichen der Falschlehrer, sie verbieten zu heiraten (1Tim 4,3). Sollte das auch für die Amtsträger gelten, müsste erläutert werden, wie sich dies zu den Positionen der Gegner verhält. Nichts dergleichen ist den Pastoralbriefen zu finden. Man könnte sagen: Wer die Erwartung sexueller Enthaltsamkeit von Amtsträgern verbergen wollte, könnte es kaum wirkungsvoller machen als der Verfasser der Pastoralbriefe. Der ist aber eher ein Vertreter des klaren, eindeutigen, sogar abgrenzenden Worts. Auch in dieser Hinsicht passt jene vorausgesetzte Zurückhaltung nicht in sein Werk.

Daran ändert auch nichts die Analogie mit der Witwenregel in 1Tim 5,3-16. Sie dürfte sich bei näherer Betrachtung für Heids Argumentation sogar als schwierig erweisen. Die Befürchtung, jüngere Witwen könnten ihr Enthaltsamkeitsgelübde nicht durchhalten, ist in den Pastoralbriefen aufs Ganze gesehen ein Fremdkörper und geht deshalb wohl auf eine Vorlage zurück, in der der Witwenstand vom Zustrom jüngerer unverheirateter (aber nicht im Wortsinn verwitweter) Frauen abgeschottet werden sollte (vgl. Ulrike Wagener, Ordnung 200-204; 1Tim 5,11 kann übersetzt werden: »Jüngere weise als Witwen ab«). Der Verfasser der Briefe greift dies auf, weil die Reserve gegen die Jungfräulichkeitstradition in sein Konzept passt. Er will ja, dass Frauen ihre Rolle in Haus und Familie erfüllen (1Tim 2,15; Tit 2,3-5), und so formuliert er auch seine Vorstellung vom angemessenen Verhalten jüngerer Frauen: Sie sollen nicht in den Witwenstand drängen, sondern »heiraten, Kinder gebären (und erziehen), den Haushalt führen« (1Tim 5,14). Nicht das Interesse am Bestehen des »Enthaltsamkeitstests« ist in diesem Abschnitt leitend, sondern die Einfügung jüngerer Frauen in die gängigen gesellschaftlichen Rollenmuster. Wenn man aber schon die Zurückweisung jüngerer Witwen darin begründet sieht, dass dem Verfasser der Pastoralbriefe an einer realistischen Option sexueller Enthaltsamkeit läge, dann müsste man auch die Konsequenzen für die Zulassung zum Bischofsamt ziehen. Auch dort wäre dann eine Reserve gegen jüngere, unverheiratete Bewerber vorauszusetzen, weil zu befürchten wäre, dass sie ihrem »ersten Treueversprechen ungehorsam werden« (s. 1Tim 5,12 zu jüngeren Frauen als »Witwen«). 


Fazit

Was hat der Durchgang durch die neutestamentlichen Traditionen ergeben? Wir sind auf die Ehelosigkeit um des Himmelreiches oder um Christi willen gestoßen. Dies war aber weder Bedingung der Nachfolge Jesu noch allgemein »apostolischer Lebensstil« zur Zeit der Urkirche. 

In den Pastoralbriefen, in denen Anforderungen an Amtsträger formuliert werden, ist der Zölibat als Zugangsbedingung zum Amt ebenfalls nicht nachzuweisen. Nicht bewahrheiten ließ sich die Aussage Kardinal Brandmüllers in seinem offenen Brief (Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 26. Januar 2011), es sei »gesichertes Forschungsergebnis, daß anfangs gewiß verheiratete Männer zu Bischöfen und Priestern geweiht wurden, diese aber vom Tag der Weihe an zwar das Familienleben, nicht aber die eheliche Gemeinschaft fortsetzten.« Eine apostolische Tradition, die die Weltkirche »nicht ignorieren darf und kann«, wie es dort weiter heißt, ist der Zölibat nicht. Der Weg der Kirche in dieser Frage heute ist durch einen geschichtlichen Befund nicht festgelegt.




Literatur zum Thema

  • Norbert Brox, Die Pastoralbriefe, Regensburg 1989 (5. Aufl.). 
  • Lorenz Oberlinner, Die Pastoralbriefe, 3 Bände, Freiburg 1994-1996.  
  • Jürgen Roloff, Der erste Brief an Timotheus, Zürich/Neukirchen-Vluyn 1988.
  • Ulrike Wagener, Die Ordnung des »Hauses Gottes«. Der Ort von Frauen in der Ekklesiologie und Ethik der Pastoralbriefe, Tübingen 1994. 

Kommentare

Volker Schnitzler hat gesagt…
Kann man zur Zeit der Pastoralbriefe (ca. um 100?) schon von einer "Weihe" sprechen? Zur Zeit des Paulus scheinen die Funktionsstellen in den Gemeinden charismatischer Natur zu sein, kann man 50 Jahre später schon von einem hierarchischen Amt sprechen?

Spannend ist auch die Frage, ob in 1 Tim 3,11 von Diakonissen die Rede ist, die später bei Plinius dJ und der syrischen Didaskalia erwähnt werden?
Gerd Häfner hat gesagt…
Einen zu "Weihe" äquivalenten Begriff gibt es in den Pastoralbriefen nicht, aber doch den Gedanken der Amtseinsetzung: das (Amts-)Charisma wird durch Auflegung der Hände des Presbyteriums verliehen (1Tim 4,14; in 2Tim 1,6 durch Auflegung der Hände des Paulus – beide Stellen beziehen sich auf Timotheus).

Was die Ämter betrifft, so lässt sich in den Pastoralbriefen keine genaue Zuordnung und Abgrenzung der drei genannten Ämter (Episkopos, Presbyter, Diakone) erheben. Meist wird der Befund heute so beurteilt, dass der Verfasser der Pastoralbriefe das Amt des einen Episkopos (Bischofs) an der Spitze der Gemeinde favorisiert und deshalb die anderen Ämter zurücktreten lässt. Das dreigestufte Amt ist jedenfalls noch nicht zu erkennen.

Ob in 1Tim 3,11 Diakoninnen oder die Frauen der Diakone gemeint sind, ist umstritten. M.E. sprechen die besseren Argumente für die erste Variante. Ich nenne hier nur eine Beobachtung: Warum soll zu den Ehefrauen der Diakone eine Bedingung formuliert werden, wenn dies zum Episkopos, der doch ausdrücklich ein vorbildliches Familienleben führen soll (1Tim 3,4f), nicht der Fall ist?
Gabriel hat gesagt…
Fazit: Bis auf Weiteres bleiben die Konklusionen von Stefan Heid bestehen. Herzlichen Gruß!
Gerd Häfner hat gesagt…
@Gabriel

Ein erstaunliches Fazit, das ohne nähere Erläuterung nur als Rätselspruch aufgefasst werden kann.
Anonym hat gesagt…
Schönen Sonntag, Herr Häfner!

Ich habe in einem anderen Forum gelesen, dass Jürgen Roloff in seinem Kommentar zu der Stelle mit dem »Mann einer Frau« vier in der Exegese vertretene Deutungen diskutiert: 1. "antizölibatär" (Bischöfe sollen normale, den Vorstellung der Zeit entsprechende Ehe führen); 2. Stoßrichtung gegen die Wiederheirat Geschiedener; 3. Stoßrichtung gegen die Wiederheirat generell (Bischöfe sollen nicht nochmal heiraten, wenn die Gattin gestorben ist); 4. Stoßrichtung gegen Polygamie.

Roloff bevorzuge die zuletzt genannte Auslegung. Die 2. Alternative sortiere er aus, weil Ehescheidung generell nicht zur Debatte stand, da sie von Paulus und Jesus verworfen wurde. Warum genau er auch die 3. Alternative ablehnt und stattdessen die doch eigentlich wie die 2. Alternative indiskutable Polygamie annimmt, weiß ich nicht.

In dem von mir gelesenen Beitrag wird darauf abgehoben, man müsse auch die Stimme Tertullians aus dem 2. Jh. ernst nehmen, da sich dieser sicherlich als "Zeuge der römischen Tradition und als Katechetenlehrer um treue Weitergabe der apostolischen Lehre bemüht" habe. Tertullian deute aber die Stelle aus dem Timotheusbrief im Sinne eines Wiederverheiratungsverbotes, das in der römischen Kirche seiner Zeit für alle Kleriker gegolten habe. Zwar gehe Tertullian in seinem montanistischen Rigurismus "weiter, indem er das Wiederverheiratungsverbot per Analogieschluss auch auf die Laien übertragen will". Das ändere aber nichts daran, dass man annehmen müsse, er habe die Stelle in apostolischer Tradition gedeutet.

Was spricht gegen eine solche Deutung der Stelle im Licht der altkirchlichen Tradition?

Ein Wiederverheiratungsverbot für Bischöfe in nachapostolischer Zeit scheint mir persönlich rein intuitiv "eingängiger" als ein Verbot der Polygamie. Außerdem muss doch ein Wiederverheiratungsverbot nicht unbedingt mit der von Heid postulierten sexuellen Enthaltsamkeit nach der Weihe einhergehen, oder? Dafür gibt es doch in der Stelle in der Tat keinerlei Anhaltspunkte, wenn ich das richtig verstehe.

Sie lehnen in Ihrem Beitrag beides (Wiederverheiratungsverbot als solches wie auch Heids Enthaltsamkeitspostulat) als nicht zu beweisen ab. Beim zweiten Punkt kann ich das nachvollziehen, aber kann man das mit dem Wiederverheiratungsverbot an sich nicht im Hinblick auf Tertullians Deutung doch als wahrscheinlicher ansehen als eine (für mich absurd klingende) Stoßrichtung gegen Polygamie? Immerhin wäre damit auch die Parallelstelle bei den Witwen besser vereinbar, denn ein Wiederverheiratungsverbot für Witwen ist ja ein allgemein bekanntes asketisches Motiv, nicht nur im Christentum, oder?

Über einen kurzen Kommentar Ihrerseits würde ich mich freuen.

G. Küppers, Köln
Gerd Häfner hat gesagt…
@G. Küppers

In der Auflistung fehlt ein Deutungstyp, der soweit ich es richtig in Erinnerung habe, auch von Roloff vertreten wird (neben der Stoßrichtung gegen die Polygamie): der Episkopos soll eine vorbildliche Ehe führen. Da die alttestamntlich-jüdische Tradition die Verpflichtung zur Monogamie nicht kennt, ist es nicht auszuschließen, dass sich diese Vorbildlichkeit auch gegen Polygamie richtet. Auch auf Mängel der Ehemoral in der hellenistischen Umwelt wird bisweilen hingewiesen, um eine solche antipolygame Ausrichtung zu begründen. Allerdings lassen die Pastoralbriefe sonst nicht erkennen, dass sie gerade mit dieser Frage zu tun hätten (und de facto wird in jener Zeit auch im Rahmen jüdischer Tradition die Monogamie der Normalfall gewesen sein). Deshalb würde ich den Ton auch nicht auf das Verbot der Polygamie legen.

Die Briefe geben auch keinen Hinweis, dass sie gegen die Wiederheirat nach dem Tod des Ehepartners eingestellt wären. In 1Tim 5,14 erwartet der Verfasser von den jüngeren Witwen, dass sie wieder heiraten und ihre Rolle in Haus und Familie erfüllen. Er teilt nicht das Ideal der nur einmal verheirateten Frau (und wahrscheinlich sind auch Belege der »univira« in der Umwelt nicht im numerischen Sinn zu deuten [also: kein Ausschluss einer zweiten Ehe], sondern im Sinn der treuen, vorbildlichen Ehefrau). Warum soll dann für den Episkopos ein Verbot der Wiederheirat bestehen? Der Verfasser des 1. Timotheusbriefes erwartet vom Gemeindeleiter, dass er sich in der Rolle als Hausvater und Familienvorstand (pater familias) bewährt hat (1Tim 3,4f). Sollte er dies nach dem Tod der ersten Frau in einer zweiten Ehe getan haben, wäre dies kein Umstand, der ihn vom Amt ausschlösse (wie ich in dem obigen Beitrag zu zeigen versucht habe).

Die Auslegung muss sich in erster Linie an den auszulegenden Text halten. Wie Tertullian ihn verstanden hat, kann textorientierte Beobachtungen nicht aushebeln. Wir können nicht sicher sein, dass es eine Kontinuität der apostolischen Tradition im Verständnis der Anforderungen an Amtsträger gibt. Der Text hat Vorrang vor der Auslegungstradition.
Anonym hat gesagt…
Vielen Dank für Ihre Antwort!

Die von Ihnen "vermisste" Variante ist mit der von mir zuerst genannten, in meiner Quelle als "antizölibatär" bezeichneten Auslegung identisch (Bischöfe sollen eine normale, also vorbildliche Ehe führen). Ich hatte "antizölibatär" extra in Anführungszeichen gesetzt, weil der Ausdruck natürlich recht polemisch ist und sicherlich auch nicht von Roloff selbst stammt.

Jedenfalls wird diese Deutung (die ja im Wesentlichen auch von Ihnen vertreten wird) angeblich von Roloff ebenso wie die Scheidungsvariante abgelehnt. Die Gründe dafür kenne ich aber nicht und habe die Literatur leider auch nicht zur Hand, weshalb ich auf diese Frage auch nicht weiter eingegangen bin.

Primär war ich an Ihrer Einschätzung einer möglichen Einbeziehung der nachträglichen Zeugnisse zur Auslegung der Stelle interessiert (Tertullian etc.).

Ist es denn ein generelles Prinzip der Exegese, die nachträgliche Auslegungstradition eines Schriftwortes ganz außen vor zu lassen? Auch wenn sie möglicherweise Rückschlüsse auf textimmanent nicht zu klärende Fragen erlaubt? Tertullian und die römische Gemeinde des 2. Jh. sind ja auch ein recht frühes Zeugnis.

Ich muss zu meiner Schande gestehen, dass ich selbst schonmal in NT-Vorlesungen gesessen habe und zumindest die Grundsätze der historisch-kritischen Methode eigentlich kennen müsste. Aber Sie wissen ja, mit den Jahren vergisst das Gehirn so einiges, was es für weniger "überlebenswichtig" hält ...

Zurzeit beschäftige ich mich ein wenig damit, die Denkweise der im Internet seit einigen Jahren sehr im Aufwind befindlichen "traditionsverbundenen" Katholiken (allerdings nicht der auf kath.net-Niveau diskutierenden) besser zu begreifen.

Da spielt der Vorwurf an die historisch-kritische Exegese eine Rolle, sie grenze die Kontinuität der altkirchlichen Überlieferung aus und sei auf den Text fixiert, ohne die gleichzeitig ablaufenden kirchlichen Überlieferungsprozesse ernst zu nehmen. So schreibt etwa auch mein "Gewährsmann" zu der hier diskutierten Stelle:

"Wenn wir tatsächlich glauben, dass die Alte Kirche in der Kontinuität mit der Kirche neutestamentlicher Zeit steht (was Roloff in dieser Weise eben nicht tut, und das ist seine exegetische Prämisse), dann muss man Tertullian zugestehen, dass er hier die apostolische Tradition vertritt, wenn er 1 Tim 3,2 in der von mir dargestellten Weise auslegt."

Nun schreibt er ja auch selbst "Wenn wir tatsächlich glauben ...", und das reicht in wissenschaftlich-kritischer Sichtweise wohl nicht aus, um Ihre Feststellung ("Wir können nicht sicher sein, dass es eine Kontinuität der apostolischen Tradition ... gibt") zu entkräften.

Aber ist es nicht durchaus legitim, auch solche nachträglichen Auslegungsstränge in die Interpretation einer Stelle einzubeziehen, gerade wenn rein textbezogen verschiedene Deutungen möglich sind und man ohnehin auf kontextbezogene Vermutungen angewiesen ist, um das zutreffende oder im apostolischen Sinn "richtige" Verständnis zu rekonstruieren? Sind Überlegungen zur situativen Einbindung des Textes in das zeitgenössische Umfeld (etwa die Frage der Deutung der "univira") nicht mitunter ebenso spekulativ wie die Annahme, dass spätere kirchliche Zeugen die ursprünglichen apostolischen Intentionen mehr oder weniger "treu" vermitteln?

Danke!
G. Küppers, Köln
Gerd Häfner hat gesagt…
@G. Küppers

Die Frage nach der Auslegungs- und Wirkungsgeschichte eines neutestamentlichen Textes spielt in der heutigen Exegese durchaus eine Rolle (z.B. programmatisch in der Kommentarreihe »Evangelisch-Katholischer Kommentar«). Sie wird aber gewöhnlich unterschieden von der Aufgabe der Textauslegung. Das Zeugnis der Kirchenväter kann uns Aufschluss darüber geben, wie ein bestimmter Text später verstanden wurde. Dies muss natürlich nicht grundsätzlich eine Sinnverschiebung bedeuten; aber genauso wenig kann man davon ausgehen, dass der ursprüngliche Sinn bewahrt wurde. In Kontinuität mit der apostolischen Tradition zu stehen bedeutet nicht notwendig, Texte aus der »apostolischen Zeit« ohne Sinnverschiebung zu verstehen. Der wichtigste Beitrag der griechischsprachigen Kirchenväter für eine historisch-kritische Auslegung dürfte bei Unsicherheiten auf der sprachlichen Ebene gegeben sein: In diesem Fall kann man studieren, wie ein Muttersprachler einen im Verständnis umstrittenen Ausdruck verstanden hat.

Dass es keine voraussetzungslose Auslegung gibt, ist heutzutage eine hermeneutische Binsenweisheit. Sie berechtigt aber nicht dazu, die Nichtbeachtung einer Prämisse (Kirchenväterauslegung stehe in Kontinuität zum ausgelegten Text) als Prämisse zu kennzeichnen. Historisch-kritische Auslegung geht ja nicht davon aus, dass eine Auslegung bei den Kirchenväütern nicht mit dem ursprünnglichen Textsinn übereinstimme. Sie verwendet nur nicht diese Auslegung als Argument bei der Erhebung des Textsinnes.

Den Begriff »antizölibatär« habe ich so verstanden, dass die ehelose Lebensform ausdrücklich ausgeschlossen werden soll. Dies muss mit der Favorisierung des im Familienleben bewährten Gemeindeleiters nicht unbedingt verbunden sein. Ich verstehe 1Tim 3 so, dass der Verfasser vom Normalfall des verheirateten Amtsträgers ausgeht und von ihm ein vorbildliches Familienleben (entsprechend dem damaligen Rollenverständnis) erwartet. Der Wille, unverheiratete Amtsträger auszuschließen, muss damit nicht verbunden sein. Deshalb habe ich die von mir befürwortete Auslegung nicht dem Typ der »antizölibatären« Auslegung zugeordnet.
Anonym hat gesagt…
Vielen Dank, diese Erklärung hilft mir weiter!

Den Kampfbegriff "antizölibatär" hätte ich besser von Anfang an gar nicht übernommen, er stammt wie gesagt überhaupt nicht von mir und es liegt mir auch ganz fern, Ihre Auslegung so zu qualifizieren. Entschuldigen Sie bitte, wenn das so rübergekommen sein sollte! Der Ausdruck wurde halt von anderen so verwendet, um damit die Auslegung zu bezeichnen, wonach in der Stelle 1 Tim 3,2 "nur" eine Mahnung zum Führen einer vorbildlichen Ehe zu erkennen sein soll.

Mir war jedenfalls klar, dass Ihre Interpretation nicht einen Ausschluss unverheirateter Amtsträger behauptet und sich natürlich nicht "gegen" den Zölibat richtet, sondern im Kern gegen Card. Brandmüllers Behauptung, es sei ein "gesichertes Forschungsergebnis", dass Bischöfe quasi seit apostolischen Zeiten nach der Weihe mit ihren Frauen nicht mehr sexuell verkehrten. Das ist ganz offensichtlich nicht gesichert, und das haben Sie für mich auch überzeugend dargelegt.

Heids um mehrere Ecken herum geführte Herleitung der sexuellen Enthaltsamkeit als angeblich von Beginn an prägender Lebensstil des Episkopats wirkt gerade an dieser Stelle sehr bemüht und konstruiert und ist (soweit ich der Diskussion folgen kann) bestimmt nicht "gesicherter" Stand.

Möglicherweise spielte bei diesen Überlegungen aber zumindest im Hintergrund ebenfalls die Tendenz hinein, eine deutlich später tatsächlich eingetretene Entwicklung (Praxis bzw. Verordnung des Enthaltsamkeitszölibats für verheiratete Kleriker Ende des 3. bzw. Anfang des 4. Jh.) in die älteren Texte zurückzuprojizieren. Deshalb finde ich Ihre Stellungnahme zu dem Traditionsproblem wichtig.

Trotzdem macht es auch da meiner Ansicht nach noch einen qualitativen Unterschied, ob man eine vom Textbefund her wenigstens denkbare oder *mögliche* Deutung (wonach die Stelle ein "Wiederverheiratungsverbot" oder besser die Empfehlung/Erwartung ausdrückt, dass die Episkopoi nach dem Tod der Frau nicht wieder heiraten) unter Verweis auf eine frühe Väterstelle (Tertullian), die sich mit eben dieser Schriftstelle befasst, für wahrscheinlich oder annehmbar ansieht, oder ob man eine im Text überhaupt nicht vorkommende Frage wie die der sexuellen Enthaltsamkeit dort hineininterpretiert und ziemlich klar erkennbar auf ein von Vornherein gewolltes Ergebnis hin beantwortet, wie Heid das offenbar tut.

Danke!
G. Küppers, Köln
Christian Küthe hat gesagt…
Handelt es sich bei den Listen bzgl. der Eignungskriterien für Bischöfe, Diakone und Presbyter in 1 Tim 3 und Tit 1 wirklich nur um "Tugendkataloge"? Irgendwie finde ich da Heids Interpretation sympathischer. Zumal 1 Tim 3,10 von "dokimazein" (erproben, prüfen, nachweisen) die Rede ist. Da stehen doch konkrete Vorschriften, die abgeprüft werden können und sollen, im Hintergrund.

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