Wenn der kleine Hunger Jesu kommt

»Mit leerem Bauch zur Tempelreinigung« , so lautet der Titel eines Interviews mit Thomas Schwartz, dem Autor des jüngst erschienenen Buches »Auch Jesus hatte schlechte Laune«. Solches Wissen über Jesu Mageninhalt und Gemütsverfassung sowie den Zusammenhang zwischen beidem macht selbstverständlich neugierig. Im Markus-Evangelium erfolgt die Tempelreinigung (11,15-18) im Anschluss an eine äußerst rätselhafte Episode, die einen hungrigen Jesus präsentiert (11,12-14). Jesus verflucht einen Feigenbaum, weil der, Jesu Hunger zum Trotz, keine Früchte trägt – ja nicht einmal tragen kann, weil gerade nicht »die Zeit der Feigen ist« (11,13). Deutet man die Handlung Jesu als Ausdruck schlechter Laune und geht man davon aus, dass Jesus auch in der Zwischenzeit an keinem Falafel-Stand vorbeigekommen ist, dann mag sich auf den ersten Blick nahelegen, dass Jesus »quasi bauchgesteuert zur Tempelreinigung schreitet« und »einfach stinksauer in den Tempel geht, weil er vorher nichts zu essen bekommen hat.«

Die Peinlichkeit des dadurch entstehenden Jesusbildes lässt sich dogmatisch überspielen, zeigt sich Jesus doch so »völlig als ein wahrer Mensch, wie ihn auch das Credo bekennt, mit menschlichen Bedürfnissen.« Allerdings erwarten wir gewöhnlich selbst von Menschen, denen wir keine besondere Verehrung entgegenbringen, ein etwas reiferes Verhalten, als es diese Auslegung Jesus zuschreibt. Dass Jesus in der Tempelreinigung einfach seiner Unterzuckerung Tribut zollt und sich an Geldwechslern und Tierverkäufern abreagiert, scheint eher in die Kategorie »allzu Menschliches« zu gehören als zum Bekenntnis »wahrer Mensch«. Zugegebenermaßen mögen hier die Geschmäcker verschieden sein. Meine Vermutung ist: Dieser unbeherrschte Jesus wirkt dann attraktiv, wenn man ein einseitig göttliches Jesusbild, dem menschliche Züge fehlen, vor Augen hat. Dann mag selbst die Vorstellung eines übelgelaunten Rabauken als Gegenbild akzeptabel scheinen.

Der literarische Charakter der synoptischen Evangelien

Wie dem auch sei, als Exeget tut man sich schwer mit dem Zusammenhang von Magenknurren und Tempelreinigung. Ich greife dieses Beispiel auf, weil sich an ihm das Profil eines exegetisch informierten Zugangs zum biblischen Text recht gut darstellen lässt. Deutlich gesagt:  Der genannte Zusammenhang missachtet den literarischen Charakter der synoptischen Evangelien. Diese sind aus kleinen, in sich abgerundeten Einheiten komponiert und lassen in der Darstellung der Personen, auch der Hauptfigur, vieles vermissen, was nach heutigem Verständnis zu einer Charakterisierung gehört. Diese Kürze und Offenheit kann dazu verleiten, die Lücken phantasievoll zu füllen. Und genau das geschieht, wenn die Aktion Jesu im Tempel mit ausgefallenen Mahlzeiten in Verbindung gebracht wird: Der leere Magen Jesu entsteht im Kopf des Auslegers. 

Es ist nicht ersichtlich, dass die Rede vom schlechtgelaunten hungrigen Provokateur im Tempel auf die Darstellung des markinischen Jesus bezogen wäre. Vielmehr scheint die Auslegung auf der historischen Ebene angesiedelt zu sein. Damit ergibt sich das Problem, dass ein bei Markus bezeugter Zusammenhang – die Abfolge von Feigenbaum-Episode und Tempelreinigung – unmittelbar historisch ausgewertet wird. Seit der Arbeit von Karl Ludwig Schmidt (»Der Rahmen der Geschichte Jesu«, 1919) hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass die Komposition der einzelnen Erzählabschnitte im Wesentlichen das Werk der Evangelisten ist und keinen unmittelbaren Rückschluss auf die historischen Abläufe erlaubt (die Passionsgeschichte mit ihrem größeren Erzählbogen bildet natürlich ein Ausnahme, weil dort die Abfolge bis zu einem gewissen Grad durch die Geschichte vorgegeben ist). Wenn man denn dem Hungergefühl Jesu irgendeine Bedeutung für die Tempelaktion zuschreiben will, dann müsste man dies auf die Textebene des Markus-Evangeliums beziehen. Zum Jesus der Geschichte stößt die exegetische Magensonde nicht vor.

Das Bild bei Markus

Allerdings ist auch Markus sichtlich uninteressiert am Sättigungszustand des Akteurs der Tempelaktion. Dass der in 11,12 genannte Hunger irgendeine Bedeutung für das Geschehen im Tempel hat, ist nicht nur durch nichts nahegelegt; es geht auch direkt gegen den Text. Der ist ja sichtlich bemüht, das Handeln Jesu mit der Schrift in Verbindung zu bringen. Die Praxis am Tempel widerspricht dem Sinn dieses Ortes als »Gebetshaus für alle Völker« (Zitat Jes 56,7) und wird deshalb von der Kritik Jeremias getroffen: Eine »Räuberhöhle« ist entstanden (Jer 7,11). Wollte man die Zitierung der Schriftworte dahingehend deuten, dass Jesus sich mit Dtn 8,3 im Hinterkopf (»nicht nur vom Brot lebt der Mensch, sondern von jedem Wort aus Gottes Mund«) wieder beruhigt und innerlich gesättigt habe, wäre nur eine weitere Textphantasie als Erklärung bemüht. 

Blicken wir auf das Markus-Evangelium im Ganzen, so ergibt sich das Bild, dass Jesus mit Mangel an Nahrung durchaus fertig werden kann. Zu Beginn hält er es vierzig Tage in der Wüste aus (1,12f, ohne ausdrückliche Fastennotiz), im Verlauf seines Wirkens kommt es zu solchem Andrang, dass er und seine Jünger »nicht einmal Brot essen konnten« (3,20). Jesus äußert sich in der Folge zwar scharf über die Schriftgelehrten, tut dies aber nur in Reaktion auf deren Vorwurf, besessen und mit dem Teufel im Bund zu sein (3,22-30). Wir wollen lieber nicht annehmen, dass Jesus wegen der entgangenen Mahlzeit Anlass für die Kritik der Schriftgelehrten gegeben hat. Auch im weiteren Verlauf des Markus-Evangeliums gilt Jesu Sorge in erster Linie nicht dem Essen. Der geplante Rückzug mit den Jüngern wird durch den Andrang der hirtenlosen Menge verhindert und durch die Lehre bis zum Abend ersetzt. Gegessen wird erst danach (6,30-44). Und hier darf man ebenso wie in der zweiten Speisungsgeschichte (Mk 8,1-10) davon ausgehen, dass Jesus vor der wunderbaren Speisung nicht als gesättigter erscheinen soll als die hungrige Menge. Kurz und gut: Ein Jesus, der im Tempel Tumult provoziert, weil ihm zuvor ein Feigenbaum die erhoffte Mahlzeit versagt hat, wäre im Markus-Evangelium ein kurioser Fremdkörper.

Ein schwieriger Text

Zweifellos ist die Episode vom Feigenbaum schwierig. Einen Auslegungsvorschlag habe ich hier schon einmal auf knappstem Raum versucht und dabei (über die Tempelreinigung hinweg) die Verbindung zur Gebetsunterweisung in Mk 11,20-25 betont. Die Schwierigkeit der Erzählung sperrt sich gegen den Versuch, mit ihr eine andere Begebenheit zu erklären. Wer aus ihr einen im Tempel gereizt agierenden Jesus ableitet, mag einem überhöhten und letztlich nichtmenschlichen Jesusbild mit Augenzwinkern in die Parade fahren; ein exegetisch verantwortetes Gegenbild entsteht so aber nicht.

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Bild: dimitrisvetsikas1969/pixabay

Kommentare

Gerhard hat gesagt…
Weinger geht nicht. Mehr kann man der auch Logos gennannten Vernunft und Weisheit der Zeit, die als lebendiges Wort theologisches Thema der hellenistischen Juden antiker Aufklärung war, denen wir auch den Markus-Text verdanken, nicht antun. Ein echter Karfreitagsbeitrag. Die Dornenkrone, die der neue Josua bekam, als was Philo die Vernunftlehre sah, lässt grüßen. Und noch dem Verfasser von "O Haupt voll Blut und Wunden" was ich eben gesungen habe, ging es nicht um den hungrigen jungen Mann, wie er bei einer unzeitgemäßen Historien-Hypothese heute hinten herauskommt.

Wenn die theologischen Literaten berichteten, dass der Hunger groß war, der Feigenbaum Früchte trug, die jedoch von den für das schöpferische Wort Verantwortlichen verschmäht wurden, was zur Tempelreinigung führte, dann lässt sich das sehr gut verstehen. Mit dem Hunger eines angeblichen Heislpredigers, was trotz des durch Wissen über das wahre historische Geschehen reichlich gedeckten Tisches von Theologen aufgetischt wird, hat auch die Geschichte mit absoluter Sicherheit nichts zu tun. Ein rebellischer junger Jude, der hingerichtet wurde und entsprechend der Göttersagen oder in Gemeindebildung wiedererweckt wurde, war mit absoluter Sicherheit nicht das Thema der theologischen Literaten im hellenistischen Judentum an der Schriftquelle, denen nun die Vernunft als lebendiges Wort Moses galt.

Der historische Hunger nach einem neuen, über das gesetzestreue, schriftgelehrte Judentum hinausgehenden Verstand lässt sich im hellenistischen Judentum der sog. Zeit Jesus jedoch ebenso nachvollziehen, wie im Prozess der Zeit die traditionellen Vorstellungen eine Tempelreinigung - für die es wieder höchste Zeit ist - nicht verhindern konnten. Denn dass trotz Karfreitag, wie er sich hier und heute wieder zeigt, der aufgeklärte Verstand des Alten (Moses) nicht verhindert werden konnte und so im Namen Josua (lat. Jesus) ein universal geltender neujüdischer Kult entstand, lässt sich allein bei Philo nachblättern.

Der Hunger ist groß, der Tisch ist gedeckt. Wenn wir die historische Perspekive wechseln, das bedenken, für was beispielsweise Philo ein Zeuge der Auferstehung des lebendigen Wortes im Logos der Zeit ist, brauchen wird das, was bei Thoma Schwarz entsprechend der Heilspredigerhyothese hinten herauskommt, nicht weiter als christliche Nahrung zu uns zu nehmen,

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