Stückls Werk und Schäfers Beitrag

Das Passionsspiel von Oberammergau 2022, die vierte von Christian Stückl geleitete Inszenierung, hat ganz überwiegend ein geradezu begeistertes Echo gefunden. Zum Abschluss hat sich allerdings eine Stimme zu Wort gemeldet, die in diesen Chor nicht einstimmt. Kurz bevor die Friseure in Oberammergau nach der Dernière ihre kürzende Arbeit an den Schauspielern ausführten, hat Peter Schäfer, Judaist von Weltruf, in einem Beitrag in der Süddeutschen Zeitung das Werk noch radikaler behandelt und kein gutes Haar an ihm gelassen (der Beitrag ist nicht frei verfügbar). 


Die Perspektive der Kritik ist inhaltlich sehr fokussiert. Wie das Stück als Bühnenwerk wirkt: im Zusammenspiel von Orchester, Chor, Schauspiel und stehenden Bildern, mit dem Wechsel von Massenszenen (mit dem halben Dorf und allen Altersgruppen auf der Bühne) und ruhigeren Partien oder auch dramatischen Einzelszenen – das wird nicht zum Thema der Besprechung. Im Kern richtet sich die Kritik auf einen Punkt, der gewöhnlich als Stärke der jüngsten Fassung gewertet wird: Diese bricht (wie auch schon Vorgängerversionen) mit antisemitischen Tendenzen und Wirkungen, die an der Tradition von Passionsspielen haften. Das Ergebnis ist für Peter Schäfer aber insofern unerfreulich, als die Belastung des Christentums mit dem Antisemitismus einfach ausgeblendet wird und ein »jüdisch-christlicher Einheitsbrei« verrührt ist, der wohl dem heutigen Zeitgeist entspricht, aber weder Judentum noch Christentum gerecht wird.

Die Kritik eines so renommierten Judaisten gibt, wie könnte es anders sein, zu denken. Dennoch kann ich ihr nicht folgen.

Antisemitismus im Neuen Testament?

Nach Peter Schäfers Urteil finden sich im Neuen Testament antisemitische Tendenzen. Die Wortwahl kann insofern überraschen, als gewöhnlich die Frage diskutiert wird, ob neutestamentliche Schriften Antijudaismus bezeugen – ohne Bezug auf einen rassistisch konnotierten Antisemitismus. Nun wird heute von »Antisemitismus« in einem allgemeinen Sinn von Judenhass und -feindschaft gesprochen, so dass eine klare Differenzierung der beiden Begriffe im aktuellen Sprachgebrauch nicht mehr gegeben ist. Für Schäfer ist bei seiner Wortwahl freilich ein anderer Gedanke entscheidend, wie in einem Gespräch im Deutschlandfunk am 28.9.2020 deutlich wird: Er fordert einen einheitlichen Begriff für das Phänomen des Hasses auf Juden, damit dessen religiöse Wurzeln nicht ausgeblendet werden. Der neuzeitliche Antisemtismus sei keine Erscheinung, aus der der Faktor der Religion – wegen deren Zurückdrängung in der gesellschaftlichen Entwicklung – herausgehalten werden könne. Ob man den einheitlichen Begriff »Antijudaismus« oder »Antisemitismus« nennt, sei demgegenüber ohne Bedeutung.

Dann ist nicht um Begriffe zu streiten, sondern um die Frage, ob dem Neuen Testament wirklich antijüdische Tendenzen zuzuschreiben sind. Im Artikel in der SZ bezieht sich Schäfer auf die matthäische Szene der Verhandlung vor Pilatus mit dem berüchtigten Wort: »Sein Blut komme über uns und unsere Kinder« (Mt 27,25). Das »ganze jüdische Volk ist für die Kreuzigung Jesu verantwortlich.« Nun gibt es in der Matthäus-Exegese sehr ernsthafte (und m.E. überzeugende) Vorschläge, die von einer solchen Auslegung wegführen und – trotz der Wendung πᾶς ὁ λαός (»das ganze Volk«) – nicht das jüdische Volk in seiner Gesamtheit belastet sehen (vgl. M. Konradt, Israel, Kirche und die Völker im Matthäusevangelium [WUNT 215], Tübingen 2007, 166-180).

Hier kommt es aber auf einen anderen Punkt an. Schäfer fährt nach dem zitierten Satz fort: »Die Juden als Volk sind die verbohrten und von Hass getriebenen Gottesmörder.« Weder die Qualifizierung des Volkes als verbohrt und von Hass getrieben noch die Bezeichnung »Gottesmörder« lässt sich am matthäischen Text belegen. Hier vermischt sich die Auslegung mit der Wirkungsgeschichte des Textes. Das Volk wird bei Matthäus von den Hohepriestern und Ältesten überredet (Mt 27,20), der Vorwurf des Gottesmordes ist wohl später u.a. aus dieser Szene abgeleitet worden, aber nicht in ihr selbst belegt. Dies wird in Schäfers Beitrag allerdings verwischt, wie die Fortsetzung des bereits zitierten Textes bestätigt. Im Zusammenhang:
»Die Juden als Volk sind die verbohrten und von Hass getriebenen Gottesmörder. Das besonders einflussreiche Matthäusevangelium schlägt damit einen Ton an, der in seinen schwerwiegenden Folgen für das Judentum nicht zu überschätzen ist.«
Den Ton hat freilich Schäfer selbst angeschlagen, nicht Matthäus. Ein Text bzw. dessen Autor ist für die Wirkungsgeschichte nicht verantwortlich, wenn sie in seiner Situation nicht absehbar war. Im Fall neutestamentlicher Schriften ist antijüdisch klingende Polemik in einem innerjüdischen Konflikt angesiedelt, nicht in einer Auseinandersetzung zwischen Christentum und Judentum. Das gilt für Paulus wie für Matthäus- und Johannes-Evangelium. In seiner »Kurzen Geschichte des Antisemitismus« (München, 2020 [2. Aufl.], epub 2022) ist Peter Schäfer auf diese drei neutestamentlichen Größen eingegangen und meint, dass der Hinweis auf innerjüdische Polemik das Thema des Antisemitismus im Neuen Testament nicht erledige, weil sich die Jesusbewegung der griechisch-römischen Welt geöffnet und damit den festgefügten jüdischen Rahmen verlassen habe. Es heißt in diesem Buch:
»Alles, was Paulus über die ethnischen Juden schreibt, kann für sich genommen und ohne Berücksichtigung des unmittelbaren historischen Kontextes als ein massiver Angriff auf das traditionelle Judentum verstanden werden – und es wurde so verstanden, wie die weitere Geschichte zeigt« (nach Pos. 1054, epub-Ausgabe; Hervorhebung von mir).
Damit ist der Unterschied zwischen Textaussage und Wirkungsgeschichte eigentlich deutlich markiert. Ebenso, wenn Paulus »unfreiwillig … zum Mitbegründer eines christlichen Antijudaismus/Antisemitismus« geworden ist (Hervorhebung von mir). Dann kann von einem Antisemitismus im Neuen Testament nur in einer äußerst spitzfindigen Schlussfolgerung gesprochen werden: insofern die einzelnen Schriften erst in der altkirchlichen Rezeption zum »Neuen Testament« wurden und zu dieser Rezeption starke antijüdische Tendenzen gehörten, in die dann auch die Schriften geraten sind, die schließlich den zweiten Teil der christlichen Bibel bildeten.

Für die Beurteilung des Passionsspiels ergibt sich daraus: Wenn die Szenen ausgelassen werden, aus denen später antisemitische Positionen abgeleitet und legitimiert wurden, ist dies nicht als problematisches Verschweigen eines Antisemitismus im Neuen Testament zu deuten, sondern als berechtigte Befreiung von textwidrigen Folgerungen in der Auslegung neutestamentlicher Schriften.

Dann erschließt sich auch ein Weg, die Pilatus-Darstellung des Passionsspiels anders zu werten, als es in Schäfers Beitrag geschieht. Zweifellos entspricht das Bild des Statthalters »als Hauptbösewicht« nicht der Pilatus-Gestalt neutestamentlicher Passionsgeschichten. Diese verdankt sich allerdings einem spezifischen Erzähl-Interesse: Die Rolle des Vertreters der römischen Macht bei der Verurteilung Jesu als politischer Rebell (»König der Juden«) wird zurückgenommen, weil diese Verurteilung die Stellung der frühen Christen im römischen Reich belastet. Daraus ergab sich für die urchristlichen Passionsgeschichten die Notwendigkeit, die Rolle der jüdischen Seite zu akzentuieren, damit der Statthalter trotz der angeblichen Einsicht in die Unschuld des Angeklagten diesen doch verurteilt: Er will Tumult vermeiden, der von den jüdischen Anklägern provoziert wird. Wenn das Passionsspiel diesem Plot nicht folgt und Pilatus als brutalen, für jüdisches Empfinden unsensiblen Machthaber inszeniert, gibt es dafür gute historische Gründe, auch wenn sich das Auftreten von Gegnern und Unterstützern Jesu vor Pilatus selbstverständlich freier künstlerischer Gestaltung verdankt. Dass die Verurteilung Jesu nicht gegen einen eigentlich widerstrebenden Statthalter von Seiten der jüdischen Obrigkeit durchgesetzt werden muss, entspricht zwar nicht den Passionserzählungen im Neuen Testament, ist aber historisch durchaus plausibel.

Abendmahl und Auferstehung

In zwei anderen Fällen ist das Neue Testament vielgestaltiger und theologisch weniger eindeutig, als es Schäfers Kritik voraussetzt. Zunächst zum letzten Mahl Jesu, bei dem mir allerdings auch nicht alles im Passionsspiel gelungen erscheint. So kann – trotz der starken Gestaltung der Szene auf der Bühne – etwas irritieren, dass die Person Jesu in der Verfremdung mancher Worte seltsam zurückgenommen ist. »Doch der Herr ist nicht größer als der Sklave«. Das liest man in den Evangelien nur umgekehrt: »Der Sklave ist nicht größer als der Herr« (Joh 13,16; s.a. 15,20; Mt 10,24par). Und was im Johannes-Evangelium auf Jesus gemünzt ist, wird im Passionsspiel im Verlauf des Abendmahls Gott zugesprochen:
»Wer zu Gott kommt, den wird nicht hungern, und wer an ihn glaubt, den wird nimmermehr dürsten« (vgl. dagegen Joh 6,35)
Wenn es dann in der Fortsetzung heißt »Wer von diesem Brot isst, der wird leben in Ewigkeit«, wird zwar direkt aus Joh 6,51 zitiert, der Sinn ist aber verschoben, insofern »Brot« keine Metapher mehr für die Bedeutung Jesu ist. Dasselbe geschieht auch mit der Aussage in Joh 7,38:
»Wer an Gott glaubt, von dessen Leib werden Ströme lebendigen Wassers fließen.«
Diese Verschiebung erscheint etwas willkürlich: Es wird eine zum Mahl passende Metaphorik aufgenommen, aber der Bezug zu Jesus, der doch im Rahmen des letzten Mahles nicht unpassend wäre, getilgt. Und dabei liegt kein Eingriff vor, der im historischen Urteil oder in der Befreiung der Texte von antisemitischer Wirkungsgeschichte begründet sein könnte.

Weniger auffällig ist bei einem Vergleich des Passionsspiels mit dem Neuen Testament aber das Objekt der Kritik Schäfers: die Tatsache, dass die »Einsetzungsworte« und die Rede vom Bund nicht erscheinen. Für diese Fehlanzeige gibt es im Johannes-Evangelium ein neutestamentliches Vorbild. Von ihm her ist auch der Fokus auf der Liebe nicht ganz so kitschig und theologisch sinnlos, wie von Schäfer moniert. Immerhin ist der auch von ihm zitierte Satz »Das ist mein Gebot: Liebt einander, wie ich euch geliebt habe« ein Kernsatz der johanneischen Abschiedsreden, in denen nicht selten von Liebe und lieben die Rede ist.

Kritik an der Abendmahlszene scheint mir also nicht unberechtigt, nicht erkennen kann ich allerdings, dass die Auferstehung Jesu im Passionsspiel  »seltsam heruntergespielt« würde. Der Vorwurf, die Wächter am Grab seien ebenso verschwunden »wie die Öffnung des Grabes durch einen Engel«, wäre auch an die Evangelisten Markus, Lukas und Johannes zu richten, denn es handelt sich hier um matthäisches Sondergut. Dass der Auferstandene nicht erscheint, mindert nicht die Präsenz der Auferstehung im Passionsspiel. Das Thema ist vielmehr nach dem Muster des Markus-Evangeliums gestaltet: In seiner ursprünglichen Gestalt kennt es keine Erscheinungen, sondern konfrontiert die Leser mit der Botschaft von der Auferstehung. Mk 16,9-20 ist ein sekundär angehängter Schluss, der die anderen Ostertraditionen voraussetzt. Und wer die Lichtgestaltung auf der Bühne erlebt und den abschließenden Chor gehört hat, kann kaum davon sprechen, hier sei spezifisch christliche Überzeugung in einen »jüdisch-christlichen Einheitsbrei« verrührt worden.

Das Passionsspiel als biblisches Patchwork

Zur Würdigung des Passionsspiels ist auch zu berücksichtigen, wie biblisch über weite Strecken die Figuren sprechen. Dabei wird manches szenisch verschoben, neu arrangiert und kombiniert, auch anderen Sprechern gegeben als im überlieferten Text. Diese Änderungen mögen im Einzelfall, wie gesehen, zu problematischer Verschiebung führen; im Ganzen aber überwiegt bei diesen biblischen Sprachspielen das Intertextualitätsvergnügen.

Sprecher wechseln: Nikodemus sagt einen Satz, den er laut Joh 3,11 so ähnlich von Jesus gehört hat: »Was ich weiß,davon rede ich. Was ich gesehen habe, bezeuge ich, ihr aber nehmt dieses Zeugnis nicht an.« (VII, Szene 4) In einer der Verhörszenen spricht Nikodemus ähnlich wie Gamaliel in Apg 5,38f (VII, Szene 2). Ein Jesuswort kann auch von einem Engel gesprochen werden: »Glaubt an das Licht, damit ihr Kinder des Lichtes werdet« (XII, s. Joh 12,36). Pilatus verfremdet Ps 2,12; »Dient dem Kaiser mit Furcht und küsst seine Füße mit Zittern, damit er nicht zürne und ihr nicht umkommt!« (IX, Szene 5) Joseph von Arimathäa spricht wie Petrus in Apg 10,38f: »Wir sind Zeugen für alles, was Jesus von Galiläa bis hierher in Jerusalem getan hat, wie er umherzog, Gutes tat und alle heilte, die in der Gewalt des Bösen waren.« (X, Szene 2) Maria deutet ihre Situation mit Ps 22 (XI, Szene 4) und paraphrasiert Ps 122 in christologischer Verfremdung:
»Nun stehe ich in deinen Toren, Jerusalem. Friede sei in deinen Mauern! Um meines Sohnes willen will ich dir Frieden wünschen, um des Tempels des Herrn willen, unseres Gottes, will ich dir Glück erflehen.« (XI, Szene 1)
Das Bild Jesu als eines Propheten wird auch dadurch profiliert, dass er wie Jesaja in Jes 1,16f spricht:
»Wascht euch euch, reinigt euch! Doch schafft mir das Böse aus den Augen! Hört auf, Unrecht zu tun! Lernt Gutes tun, weist den, der unterdrückt, in seine Schranken! Verschafft den Waisen und Witwen ihr Recht!« (I)
Selbst eine so unscheinbare Aussage wie »Wer so daliegt, steht nicht wieder auf« (Agrippa, in: XI, Szene 2) kann als Anspielung auf Ps 41,9 gelesen werden.

Nicht wenige Aussagen werden aus anderen Zusammenhängen in neue szenische Kontexte gesetzt. Dies betrifft nicht nur den Einblick in die Botschaft Jesu, die mit der ersten Szene vom Einzug Jesu in Jerusalem verbunden wird. Joh 3,2 etwa wandert vom Gespräch des Nikodemus mit Jesus in eine Verhörszene (VII, Szene 2): »Ich bekenne: Niemand kann diese Zeichen wirken, wenn nicht Gott mit ihm ist«. Die Aussage über die zeitliche Priorität Jesu im Vergleich mit Abraham aus Joh 8,58 findet sich (als Referat im Mund der Ankläger) ebenso in dieser Szene wie der leicht veränderte Abschluss des Gleichnisses von den bösen Winzern nach Mt 21,43: »Ich sage dir: Das Reich Gottes wird von euch genommen und denen gegeben werden, die die erwarteten Früchte bringen.«

Ich breche ab, das alles sind nur Beispiele, die sich leicht vermehren ließen. Wer das Passionsspiel gesehen hat, kommt mit einer Fülle biblischer Texte in Berührung. Dass dies in künstlerischer Freiheit geschieht, ist kein Schaden – es macht gerade einen besonderen Reiz des Stückes aus. Man könnte vielleicht versucht sein zu folgern, dass dieses biblische Patchwork, auf die Aufnahme alttestamentlicher Texte bezogen, zu jenem jüdisch-christlichen Einheitsbrei beitrage, den Peter Schäfer im Passionsspiel erkennt. Dies ist aber nicht der Fall. Es war von Anfang an ein Anliegen derer, die sich zu Christus bekannten, ihr Bekenntnis mit der Schrift (dem »Alten Testament«) in Verbindung zu bringen. Dass alttestamentliche Texte zur Deutung der Gestalt Jesu herangezogen werden, ist gerade in den Passionsgeschichten der Evangelien fest verankert. Bezeugt wird dadurch keine unangemessene Vermischung, sondern die Verwurzelung des Christusbekenntnisses in der jüdischen Tradition.

Vermutete Intentionen

Wenn das Passionsspiel in diesem Sinn einen Jesus präsentiert, der ganz in jüdischem Horizont agiert; wenn die Darstellung der jüdischen Obrigkeit differenziert erfolgt und auch deren Einbindung in das römische Herrschaftssystem mit der Verpflichtung zur Wahrung der öffentlichen Ordnung zur Sprache kommt; wenn Ansatzpunkte antisemitischer Wirkungsgeschichte neutestamentlicher Passionsgeschichten ausgeblendet bleiben – dann muss dies nicht als Versuch gewertet werden, sich durch Verschweigen von der Schuld des Antisemitismus freizusprechen. Peter Schäfers Kritik speist sich auch aus Vermutungen über Intentionen hinter der Darstellung.

Dass bei der Tempelreinigung das Schma Jisrael gesungen wird, deutet er als den anmaßenden Versuch des Christentums »als das neue Judentum«, »das wichtigste Gebet des (alten) Judentums« zu usurpieren. Man kann die Szene aber auch so lesen, dass dem Christentum vor Augen gestellt wird, dass Jesus, auch wenn er gegen die Tempelpriesterschaft und die Opfer am Tempel agiert, ganz als jüdischer Prophet zu verstehen ist. Und muss man die Tatsache, dass sich das Oberammergauer Passionsspiel 2022 von der unseligen antisemitischen Tradition früherer Passionsspiele deutlich absetzt, als Ausdruck selbstzufriedenen Erkenntnisfortschritts deuten? Peter Schäfer erkennt als Botschaft hinter der zeitgeistigen »neue[n] Torah von Oberammergau«: 
»Wir Deutschen, die Verursacher der größten Katastrophe in der jüdischen Geschichte, haben unsere Lektion endgültig gelernt. Wir beseitigen alle Spuren des Antisemitismus aus den Passionsspielen und aus dem Neuen Testament – und weil wir schon mal dabei sind, das Neue Testament gleich mit.«
Diese Interpretation ist keineswegs zwingend, nicht nur was die angebliche Beseitigung des Neuen Testaments betrifft. Woraus ist abgeleitet, im Passionsspiel werde der Anspruch erhoben, der Welt zu erklären, »wie Judentum und Christentum aussehen müssen, damit Juden und Christen in Zukunft einträchtig miteinander leben können«? Näher liegt m.E. die Deutung, dass den Christen vor Augen gestellt wird: Derjenige, den sie als Christus und Sohn Gottes bekennen, war in seiner irdischen Existenz Jude – und deshalb sind antisemitische Konsequenzen, die aus Geschichte und Geschick Jesu gezogen wurden oder werden, absurd. Christliche Bekenntnisinhalte sind nicht getilgt, etwa im Blick auf den Sühnetod (in VI, Szene 1; XI, Szene 2) oder die Auferstehung (XII). Dann ist auch die christliche Seite primärer Adressat der Darstellung. Dass irgendetwas darüber ausgesagt werden solle, wie das Judentum aussehen müsse, kann ich im Passionsspiel nicht erkennen.

Vielleicht hat die spezifische Perspektive des Antisemitismus-Forschers die Wahrnehmung des Oberammergauer Passionsspiels gelenkt. Wer sich mit der furchtbaren Geschichte des Antisemitismus befasst, wird eher die Gefahr sehen, dass man sich aus dieser Geschichte einfach davonstiehlt. Dies der diesjährigen Fassung des Spiels vorzuwerfen, ist aber unbegründet.

Kommentare

Stephan Ch. Kessler hat gesagt…
Danke für diese textgebundene und argumentative Refutatio. Die Besonnenheit ist hilfreich.

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