Immer diese Erdbeben ...

Erdbeben sind Katastrophen: in jedem Fall für diejenigen, die unmittelbar von ihnen betroffen sind; manchmal auch für die Auslegung der Bibel. Die Deutung von Erdbeben als Zeichen für das nahe Weltende war hier schon zweimal Thema (s. hier und hier), nun kommt eine neue Variante hinzu. Aus Spuren eines Erdbebens am Toten Meer, »das die Geologen auf den Zeitraum zwischen 26 und 36 datieren« (so die Nachricht auf kath.net mit Bezug auf eine Meldung von Discovery News), sollen Hinweise auf das Todesdatum Jesu am 3. April 33 gewonnen werden.

Es überrascht, dass die angegebene Zeitspanne genau mit der Amtszeit des Pontius Pilatus übereinstimmt. Aber nun gut, nehmen wir diesen Zufall einmal hin. Noch erstaunlicher ist dann allerdings die Nachricht, die Ergebnisse würden nicht ausreichen, um das Todesdatum Jesu genauer zu bestimmen. Deshalb seien »weitere Faktoren« herangezogen worden. Damit hebt sich die Nachricht von der Bedeutung des Erdbebens für die Datierung des Todes Jesu selbst auf: Dass Jesus unter Pontius Pilatus hingerichtet wurde, ist von seriöser historischer Forschung nie bestritten worden.


Historisierung einer theologischen Aussage

Nicht nur deshalb ist allerdings dieses Erdbeben ganz ungeeignet zur Bestimmung des Todesdatums Jesu. Wichtiger noch ist eine grundsätzliche Überlegung: Es handelt ich hier um ein apokalyptisches Motiv, das sich nicht einfach historisch auswerten lässt. Zur Vorsicht müsste schon die Tatsache mahnen, dass allein das Matthäus-Evangelium von einem Erdbeben im Zusammenhang mit dem Tod Jesu erzählt. Es ist leichter erklärlich, dass Matthäus aus theologischen Gründen dieses Motiv einfügt, als dass ein Ereignis vom Ausmaß eines Erdbebens in allen anderen Traditionssträngen verloren gegangen wäre. Dass es sich um ein apokalyptisches Motiv handelt, ist an der Einbindung in einen umfassenderen Zusammenhang zu erkennen. Das Erdbeben steht nämlich nicht für sich, sondern wird als der zweite Akt in einer Reihe von Ereignissen dargestellt, die durch den Tod Jesu ausgelöst werden (bezeichnenderweise bricht die kath.net-Meldung mit der Notiz von der Felsenspaltung ab):
»Und siehe, der Vorhang des Tempels zerriss in zwei (Stücke), von oben bis unten; und die Erde erbebte, und die Felsen zerrissen, (52) und die Gräber öffneten sich, und viele Leiber der entschlafenen Heiligen wurden auferweckt; (53) und sie gingen nach seiner Auferweckung aus den Gräbern und gingen in die heilige Stadt und erschienen vielen.«
Die Deutung dieses Einschubs ist schwierig. Die Schwierigkeiten rühren nicht zuletzt daher, dass die Szene in zeitlicher Hinsicht gesprengt wird. Erdbeben, Spaltung der Felsen, Öffnung der Grabkammern und Auferweckung vieler Gerechter – all dies wird (wie das Zerreißen des Tempelvorhangs) mit dem Tod Jesu verbunden. Dagegen ist das Erscheinen der Auferweckten in Jerusalem nach der Auferstehung Jesu angesetzt. Die Erzählfolge wird dadurch unklar. Wenn es heißt, das Bekenntnis des Hauptmanns (und seiner Mitsoldaten) sei angesichts »des Erdbebens und des Geschehenen« ergangen (27,54), ist offensichtlich auch die Folge des Erdbebens im Blick, also die Öffnung der Grabkammern und die Auferweckung vieler Heiliger. Dies wird aber V.53 zufolge erst nach der Auferstehung Jesu sichtbar in den Erscheinungen. Wie kann das dann der Hauptmann unter dem Kreuz erkennen? Und auch unabhängig von dieser zeitlichen Struktur, scheint die Anschaulichkeit der Szene doch sehr strapaziert, wenn das römische Kommando all die beschriebenen Ereignisse unter dem Kreuz stehend erkennen soll.

Diese erzählerische Schwierigkeit begründet das Urteil, dass hier vor allem ein theologisches Signal gegeben werden soll. Immerhin werden wir mit einem Verbund von apokalyptischen Motiven konfrontiert. Zum Erdbeben kommt die Felsenspaltung, diese wiederum ist der Gräberöffnung und Auferweckung zugeordnet, also einem endzeitlichen Ereignis; deshalb liegen apokalyptische Konnotationen nahe. Zwar wird nicht die endzeitliche Totenerweckung der Gerechten dargestellt, denn es ist nur die Rede von der Erweckung vieler Heiliger. Und Matthäus wollte sicher nicht gegen die urchristliche Tradition von einer Auferweckung der Gerechten vor der Auferweckung Jesu sprechen. Die apokalyptische Färbung wird dem Text dadurch aber nicht genommen.

Verweis auf die österliche Dimension des Todes Jesu

Die schon angedeuteten Schwierigkeiten könnten daher rühren, dass Mt eine jüdisch-apokalyptische Tradition aufgegriffen und der Verkündigung des Todes Jesu angepasst hat. Jene Tradition könnte vor allem auf Ez 37 zurückgegriffen und diesen prophetischen Text auf die endzeitliche Totenauferstehung gedeutet haben. Matthäus hätte dann diese Tradition auf den Tod Jesu bezogen und mit ihm die apokalyptische Wende verbunden. Der Tod Jesu wird also gedeutet als der Beginn der neuen Heilszeit. 

Wenn von der Auferstehung die Rede ist, muss nicht daran gedacht sein, dass die Auferstehung Jesu im Augenblick seines Todes erfolgte – zu deutlich sind im Urchristentum (wie auch sonst im Matthäus-Evangelium) Tod und Auferweckung Jesu als zwei Ereignisse vorgestellt. Es muss sich hier also um bildliche Rede handeln. Ausgedrückt wird die »zeichenhafte[] Vorwegnahme der Auferstehung Jesu in seinem Tod«. Der Beginn der endzeitlichen Wende wird bildhaft dargestellt, eine »Wende, die in der Auferstehung Jesu ihren Höhepunkt erreicht und bei der Parusie [=Wiederkunft Christi] zur Vollendung kommt« (Ingrid Maisch, Die österliche Dimension des Todes Jesu, in: L. Oberlinner [Hg.], Auferstehung Jesu - Auferstehung der Christen, Freiburg 1986, 96-123, hier: 122.123).

Staubwolke überholt Erdbebeben

In einem bestimmten Sinn erhellend ist der Versuch eines der zitierten Forscher (Jefferson Williams), die Dunkelheit von der sechsten bis zur neunten Stunde (also vor dem Tod Jesu: Mk 15,33; Mt 27,45; Lk 23,44) mit dem Erdbeben in Verbindung zu bringen. Wenn die Finsternis durch eine Staubwolke verursacht sein sollte, die durch das Erdbeben ausgelöst wurde, müssten wir entweder, wenig empfehlenswert, den Zeitstrahl für drei Stunden umkehren oder den Zeitpunkt des Erdbebens anders bestimmen als es im Matthäus-Evangelium der Fall ist. Dies verdeutlicht das Dilemma, in das eine historische Auswertung theologischer Motive führt. Sie lädt dazu ein, die historische Glaubwürdigkeit der Evangelien an Beobachtungen festzumachen, die dann im Ganzen doch nicht auf historische Vorgänge bezogen werden können. 

Auch die Finsternis vor dem Tod Jesu ist ein theologisches Motiv aus der Apokalyptik. Dass die Sonne nicht mehr scheint, gehört zu den Schrecken der der Endzeit, die den Einbruch der neuen Welt Gottes unmittelbar ankündigen. Wenn die Finsternis vor dem Tod Jesu einsetzt, geht es nicht, wie in religionsgeschichtlichen Parallelen, darum, dass die Natur angesichts des Todes eines bedeutenden Menschen trauert. Angedeutet wird vielmehr: die Wende der Welt geschah im Tod (und der Auferweckung) Jesu. Die matthäische Szene nach dem Tod Jesu gestaltet diesen Gedanken aus. Theologisch gedeutet passt sie sich also in die Erzählung ein, während eine historische Auswertung mehr Schwierigkeiten schafft als löst. Immerhin erwägt Jefferson Williams nach der Meldung von Discovery News die Möglichkeit, dass die Stärke des Erdbebens bei En Gedi nur für eine Spur in den Bodenschichten am Toten Meer, aber nicht in zeitgenössischen Berichten ausgereicht hat. Und dann wäre, so Williams, auch die Erwähnung im Matthäus-Evangelium eine Art Allegorie.
Die Erkenntnis solcher theologischer Sinnlinien nimmt dem Text nichts von seiner Bedeutung und wird ihm in jedem Fall eher gerecht als ein Zugang nach dem Muster »Und die Bibel hat doch Recht«.

Kommentare

Gerhard Mentzel hat gesagt…
Vielen Dank Herr Prof. Häfner,

dass Sie hier den Weg deutlich machen, der nicht nur zum zeitgemäßen Verständnis des NT führt (theologische Aussage/Geschichtsereignis in geschichtlicher Form), sondern m.E. auch der Gestalt, über die berichtet wird, auf die sich dieses theologische Ereignis bzw. die Bedeutungsaussagen beziehen.

Wenn wir aufhören, die Wahrheit der Bibel auf banale buchstäbliche Weise begründen zu wollen, in dem Erdbeben oder Sonnenverfinsterung, evtl. gar der zerrissende Vorhang bewiesen werden soll, können wir die geschichtliche Wahrheit bzw. Heilsbedeutung der geschehenen geistigen Wende zur Neubegründung des alten Bundes, einem universalen Hören des ewigen Wortes in antiker Aufklärung begreifen.

Doch wie immer wieder deutlich gemacht, ist es nicht damit getan, nur allein das Geschehen auf theologische Weise zu deuten und hier den Bezug zu alten Bildern herzustellen, sondern wäre dies auch hinsichtlich der Gestalten, um die es geht, die Aufgabe der Wissenschaft.

Denn wenn nur alte apokalytische Bilder nachgeblättert werden, wie Ez 37, die man auf den Tod eines jungen Rebellen übertrug, dann löst sich der Text, den sie hier theologisch deuten, in heiße Luft auf, statt zu dem Heilsereignis zu führen, das beschrieben ist.

So wie es um die theologische Tatsache des Erdbebens oder zerrissenen Vorhanges geht (nicht nur einfach ein Bilderklau zur Verherrlichungsrede), wäre es m.E. die Aufgabe neutestamentlicher Wissenschaft, auch den echt Hoheitlich-Historischen deutlich zu machen, um den es dabei geht: Auf-verstehung, auch der Heiligen.
Stefan Wehmeier hat gesagt…
(NHC II,2,56) Jesus sagte: Wer die Welt erkannt hat, hat einen Leichnam gefunden. Und wer einen Leichnam gefunden hat, dessen ist die Welt nicht würdig.

Wer das ganze Ausmaß der systemischen Ungerechtigkeit erkannt hat, in der wir (noch) existieren, kann mit "dieser Welt" nichts mehr anfangen und muss sprichwörtlich "über den Rand der Welt fallen". Darum fürchten sich die Allermeisten bis heute vor der Auferstehung, auch wenn das Wissen längst zur Verfügung steht und es seit dem Beginn der so genannten "Finanzkrise" (korrekt: beginnende globale Liquiditätsfalle nach J. M. Keynes, klassisch: Armageddon) auch keine andere Möglichkeit mehr gibt, als die absolute Gerechtigkeit und damit allgemeinen Wohlstand auf höchstem technologischem Niveau, eine saubere Umwelt und den Weltfrieden zu verwirklichen. Die einzige "Alternative" wäre der Rückfall in die Steinzeit, denn je höher man auf der Stufenleiter der Arbeitsteilung nach oben kommt ohne eine stabile Makroökonomie, desto tiefer ist der Fall.

http://www.juengstes-gericht.net
Jordanus hat gesagt…
Lieber Herr Häfner, dass Matthäus "aus theologischen Gründen ein Erdbeben" einfügt, finde ich sehr zweischneidig. Das läuft für mich, wenn man diese Argumente überspitzt, auf die Argumentation hinaus, letztendlich sei das alles nur eine theologische Konstruktion. Ich würde gerne zugeben, dass das Erinnerungsvermögen und die verschiedene Sichtweise viele Begegebenheiten in einem anderen Licht erscheinen lässt. Das sieht man ja auch an verschiedener Interpretation derselben Geschichten in den synoptischen Evangelien. Aber wieso sucht man immer solche "Erklärungen"? Die beste Erklärung ist doch eigentlich, dass Matthäus es so aufgeschrieben hat, wie er es erlebt hat bzw. in Erinnerung hatte. Wenn die anderen es nicht erwähnen, hat das zunächst einmal gar nichts zu sagen. Ich verstehe ja, dass Sie versuchen, rein historisch zu argumentieren. Aber diese Trennung von geschichtlicher und theologischer Lesart ist ja oft gerade unser Problem.
Insofern finde ich ihren Schluss gut. Es bringt theologisch nichts, diese Dinge beweisen zu wollen. Damit begibt man sich auf eine wissenschaftliche Grundlage, die sich zu den Aussagen der Bibel in vielleicht unüberbrückbarer Dissonanz befindet. Ich würde mir von seiten der exegetischen Wissenschaft daher auch eine intensivere und öffentliche Kritik der eigenen Methoden wünschen. Ich beobachte immer noch, dass viele sich mit historischen Problemen aufhalten, die meistens nicht zu lösen sind. Aber was tatsächlich in diesen Berichten geschieht, - auch mit uns! - spielt fast gar keine Rolle mehr.
Ameleo hat gesagt…
@ Jordanus:
Das Problem ist, dass immer wieder versucht wird, den Evangelisten ein historisches Interesse zu unterstellen. Die biblischen Bücher sind jedoch in erster Linie Glaubensaussagen. Wie anders als in Bildern kann ich denn vom Glauben sprechen? Wenn ich sage: etwas hat mich zu tiefst erschüttert, heißt das ja auch nicht, dass ich gewackelt hätte.

Warum soll erst dann etwas wahr sein, wenn es als naturwissenschaftlich-historisch nachweisbar gilt? Die Sprache des Glaubens ist mehr. Da spricht auch etwas aus dem Inneren, aus der Seele, aus den uralten Glaubensbildern eines unüberschaubaren Glaubensgedächtnisses.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Können wir einfach glauben was wir wollen, Wissen verdrängen, nur um nicht in Zweifel zu kommen?

Oder ist nicht auch das gewachsene Wissen (auch dass es in der Geschichte des Matthäus um ein theologisches Geschehen geht) eine schöpferische Gabe im heute Evolution genannten Lebensfluss: Lebendiges Wort Gottes.

Doch es stimmt, die Trennung von geschichtlicher und theologischer bzw. inhaltlicher Leseweise ist ein Problem, das nur im Weiterdenken der theolog. Wissenschaft, nicht in Aufgaben des gegebenen Wissens zu lösen ist.

Die heutige Kritik hält in ihrem Kurz-schluss die gesamten Geschichten für unhistorisch, blättert alle Aussagen, von Geburt bis Auferstehung Jesus im AT oder heidnischen Mythen nach. Gerd Lüdemann (der als Kenner der Geschichte und Gnosis wissen müsste, dass dieser kein Wanderperdiger war bzw. den urchistichen Denkern kein Guru zugrunde lag) nimmt dann dem jungen Prediger jedes Wort aus dem Mund: Vom Heiland ist gleich gar nichts mehr. Und Radikalkritiker, die letztlich auch den heute geltenden Heilsprediger zum Gegenstand ihrer Untersuchung machen, bezweifeln dann selbst die Existez eines historischen Jesus, machen deutlich, dass auch dessen Person z.B. ein Gegenentwurf zum römischen Messiaskaiser, zur griechischen Logoslehre... oder einfach ein Produkt frommer Phantasie ist.

Als was der vom Historischen getrennt Hoheitliche meist auch den kirchlichen Wissenschaftlern gilt, die dann die Christologie zurücknehmen wollen, von Dogmen befreien oder wenn vom Logos bzw. lebendigen Wort gesprochen wird, das Jesus war, nur eine Apologetik (Verherrlichungsrede oder philosophische Einfärbung) vermuten.

Wäre es daher nicht Aufgabe der kath. Wissenschaft deutlich zu machen, dass es bei Jesus wirklich um ein universal (für Juden wie Heiden) historisches Wesen ging, das die hoheitliche bzw. schöpferische Funktion für die gesamte Welt hatte und Heute hat, die historisch war bzw. beschrieben ist?

Doch das geht sicher nicht, indem die Kritik und Wissen verdrängt, buchstäblich wieder geglaubt werden soll. Was spricht aber dagegen, auch die menschliche Person (Rolle/Aufgabe) des fleischgewordenen Wortes (hebr. Vernunft) auf aufgeklärte Weise zu bedenken? Deutlich zu machen, warum das Wort/Vernunft in menschlicher Person und nicht römische Kaiser oder philosophische Vernunftlehren in Göttergestalten messianische Wirkung hervorbrachten, die Kulturen versöhnen konnten, heilsbringend für die Welt waren.

Meistgelesen

»Pro multis«

Ein Gleichnis auf der Folterbank

Über Kreuz