Sonntagsevangelium (99)

29. Sonntag im Jahreskreis (C): Lk 18,1-8

Das Gleichnis vom ungerechten Richter ist durch eine Konstellation geprägt, die sich auch andernorts in antiker Literatur findet: Einer Frau wird die gerichtliche Behandlung ihrer Klage verweigert, sie protestiert trotz ihrer rechtlich schwachen Stellung und hat damit schließlich Erfolg. In Lk 18,2-5 ist dies aber nicht als eine fortlaufende Geschichte gestaltet, in der der Gleichniserzähler die einzelnen Stationen der Handlung bis hin zum guten Ende für die Bittstellerin mitteilen würde. Die Besonderheit des Gleichnisses besteht darin, dass die Wende in einen Monolog des Richters eingebettet ist (18,4f). Die Geschichte will nicht nur zeigen, dass die Frau ihr Ziel erreicht, sondern auch, was ihre Hartnäckigkeit bei dem Richter auslöst.

Der Richter wird zu Beginn als »ethisch prinzipienlos dargestellt« (Michael Wolter, Das Lukasevangelium, Tübingen 2008, 588), da ihm Gottesfurcht und Respekt vor Menschen abgeht. Daran ändert sich im Verlauf der Geschichte nichts, denn der Richter selbst charakterisiert sich in seinem Monolog auf dieselbe Weise wie der Erzähler: »Wenn ich auch Gott nicht fürchte und keinen Menschen achte ...« Der Richter bleibt ungerecht, und genau darauf hebt die Geschichte ab: Diesem Charakter des Richters zum Trotz erreicht die Witwe durch beständiges Bedrängen, dass er ihr Recht verschafft. Die Anwendung in 18,6f knüpft an diesem Zusammenhang an, indem der Schluss vom Kleineren auf das Größere abgewandelt wird: Wenn schon ein so mieser Charakter wie dieser Richter sich durch Hartnäckigkeit erweichen lässt, um wieviel mehr wird dann Gott, der ja nicht ungerecht ist, die Bitten derer erhören, die zu ihm rufen.

Lukas lenkt das Verständnis des Gleichnisses vom ungerechten Richter durch eine einleitende Bemerkung von vornherein in diese Richtung (18,1; dieses Verfahren auch in 18,9; 19,11). Die Formulierung der Anwendung in 18,7 könnte darauf hindeuten, dass in ihr ursprünglich die Erfahrung bearbeitet wurde, dass sich die Vollendung der Endzeit unerwartet verzögert hat. In diesem Fall hätte das Rufen »bei Tag und Nacht« einen bestimmten inhaltlichen Bezug: die Wiederkunft Christi. Dies würde auch gut den Abschluss mit der Ausrichtung auf das Kommen des Menschensohns erklären. 

Diese Anwendung ließe sich aber nicht auf Jesus zurückführen, denn das Problem der Verzögerung des Endgerichts passt nicht in seine Botschaft. Als Mahnung zu beharrlichem Gebet lässt sich das Gleichnis aber auch auf der Ebene der Verkündigung Jesu lesen. In Lk 11,5-13 ist eine ähnlich angelegte Gebetsmahnung überliefert. Lukas hätte dann mit seinem weiter gefassten Bezug in der Einleitung (nicht nur auf die Wiederkunft Christi ausgerichtet) den ursprünglichen Sinn des Jesus-Gleichnisses getroffen. 

Unwahrscheinlich ist, dass der ungerechte Richter ursprünglich parallel zum gelobten ungerechten Verwalter in Lk 16,1-8 angelegt war (s. dazu hier), so dass sein Verhalten als vorbildlich erscheinen sollte, etwa in dem Sinn: Wie der Richter angesichts einer kritischen Situation sein Verhalten ändert, so sollen es auch die Hörer angesichts der Nähe der Gottesherrschaft tun. Gegen eine solche Parallele spricht: Anders als jener Verwalter fürchtet der Richter nur, dass er in eine unangenehme Situation geraten könnte; richtig bedrohlich ist seine Lage nicht. Einer, der durchweg als unmoralisch gekennzeichnet wird, eher die Entehrung als körperlichen Schaden abwenden will und dazu auch nichts Anderes unternehmen muss, als seiner Aufgabe nachzukommen, kann kaum als Vorbild für die Hörer Jesu wahrgenommen werden. 

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