Antimodernismus und Exegese (1)

Beim Kongress »Freude am Glauben«, der am vergangenen Wochenende in Augsburg stattfand, hat Prälat Wilhelm Imkamp einen Vortrag gehalten mit dem Titel »Der Modernismus als Herausforderung im Jahr des Glaubens. Geschichtliche Anmerkungen zu einem bleibenden Problem«. Dem wohlwollenden Referat von Barbara Wenz zufolge bestand der Vortrag im Wesentlichen aus einer Polemik gegen den Modernismus, die auf die gegenwärtige Situation zielt. Eine inhaltliche Substanz, die Grundlage für eine sachliche Auseinandersetzung sein könnte, ist dem Referat nicht zu entnehmen.

Für einen Exegeten wird die Freude am Glauben allerdings auf eine harte Probe gestellt, wenn im Blick auf die Enzyklika
Pascendi dominici gregis vom »heiligen Genie Pius X.« die Rede ist, dem zu verdanken sei, dass das Phänomen des Modernismus »einmal scharf umrissen worden ist«. Da dies nicht der erste Hinweis dafür ist, dass der Antimodernismus vom Beginn des 20. Jahrhunderts wieder rehabilitiert wird, will ich hier in mehreren Beiträgen auf jene Phase der neueren Kirchengeschichte und die Folgen für die Exegese eingehen. Dabei wird sich auch zeigen, dass man den antimodernistischen Kurs Pius' X. nicht rehabilitieren kann, ohne einige seiner Nachfolger ins Unrecht zu setzen. Der Weg der katholischen Exegese im 20. Jahrhundert ist ein Fallbeispiel für Kehrtwenden in lehramtlichen Stellungnahmen innerhalb einer – kirchengeschichtlich betrachtet – recht kurzen Zeitspanne, oder anders gesagt: ein Fallbeispiel dafür, dass zur Tradition auch der Wandel gehört.

Die Beiträge gehen zurück auf einen Vortrag, den ich am 11. Mai 2013 bei der Ottobeurer Studienwoche gehalten habe (»Vom Denkverbot zum Imprimatur. Der Weg der katholischen Exegese im 20. Jahrhundert«).



I.  Der Antimodernismus am Beginn des 20. Jahrhunderts

Die wechselvolle Geschichte der katholischen Exegese im 20. Jahrhundert verbindet sich am Beginn mit dem Begriff »Modernismus«. Dieser Begriff sollte alle aus lehramtlicher Sicht verurteilungswürdigen Tendenzen bündeln. Man sah in der zeitgenössischen Theologie ein verschwörerisches System, das nur zur Tarnung als solches nach außen nicht in Erscheinung trete. Insofern kann man in bestimmtem Sinn das Lehramt selbst als Schöpfer des »Modernismus« bezeichnen (nach dem Wort von George Tyrell: »Der Schöpfer des Modernismus ist Pius X.«: Zwischen Scylla und Charybdis, Jena 1909, S.V): Der Begriff entsteht aus der Ablehnung der damit bezeichneten Sache. Wenn man auch durchaus noch erkennen kann, wer mit den ausgesprochenen Verurteilungen getroffen werden sollte, existiert der »Modernismus« als ganzes doch nur im Modus der Verwerfung: eben als Antimodernismus. Die Verurteilten selbst hatten sich nicht als Modernisten bezeichnet, sondern »verstanden sich als Reformkatholiken oder eventuell als liberale Katholiken« (Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt 2009, 91).


Vorgeschichte im 19. Jahrhundert

Die Auseinandersetzungen, die am Beginn mit Folgen bis weit in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts geführt wurden, gehen zurück auf die unerledigten Debatten des 19. Jahrhunderts. Die katholische Kirche hatte auf die Herausforderungen von Demokratisierung, historischem Denken und naturwissenschaftlichem Fortschritt nur aggressiv-defensiv und rückwärtsgewandt reagiert. Meinungs-, Presse- und Gewissensfreiheit geißelte Gregor XVI. in seiner Enzyklika Mirari Vos als »Wahnsinn«. Pius IX. bestätigte in seiner Enzyklika Quanta cura aus dem Jahr 1864 diese Verurteilungen. Die systematische Abschottung der Kirche von den geistesgeschichtlich relevanten Entwicklungen jener Zeit führte zum Antimodernismus, der all jene Bestrebungen in der Theologie verurteilte, die sich der Strategie der Abschottung widersetzten.

Für die katholische Exegese bedeutete dies, dass ein historisch-kritisches Arbeiten in ihr keinen Platz haben durfte. Geschichtliches Denken wurde als glaubenszerstörend empfunden. Wie auf dem Feld der Dogmatik der Gedanke der Dogmenentwicklung abgelehnt wurde, so in der Exegese die Unterscheidung zwischen Glaube und Geschichte. Dass es eine Differenz zwischen beiden geben könnte, galt als unvereinbar mit dem Bekenntnis. Was etwa das Dogma von Chalcedon über die beiden Naturen Christi formulierte, hat in dieser Sicht zweifellos bereits das Selbstbewusstsein Jesu bestimmt. Auf das Wirken Jesu lasse sich all das in historischem Sinn zurückführen, was Glaube und Kirche in der Folgezeit prägen: christologisches Bekenntnis, Gründung der Kirche, Einsetzung der Sakramente. 

Alfred Loisy

Mit entgegengesetzten Versuchen verbindet sich vor allem der Name Alfred Loisy. Das erste antimodernistische Dekret (Lamentabili, s.u.) ist, wie die neuere Forschung gezeigt hat, eine Reaktion auf die Werke Loisys. In seinem Buch L'Évangile et l'Église, erschienen im Jahr 1902 (2. Aufl. 1903, deutsch 1904), versuchte Loisy, Dogma und Geschichte miteinander zu versöhnen, indem er die Entwicklung der Glaubenslehren in der Geschichte der Alten Kirche als legitime Entfaltung der Ursprünge bei Jesus beschrieb, dabei aber die Differenzen nicht verschwieg. Berühmt geworden ist das Diktum: 
»Jesus hatte das Reich Gottes angekündigt, und dafür ist die Kirche gekommen.«
(Alfred Loisy, Evangelium und Kirche, München 1904, 112f)
Dies war allerdings nicht so gedacht, wie es in isolierter Zitierung verstanden werden konnte und weithin auch verstanden wurde: gerade nicht als Kritik an der mangelnden Verbindung der Kirche zum Ursprung im Wirken Jesu.

Das Buch war eigentlich eine Schrift, die gegen Adolf von Harnack und sein Werk Das Wesen des Christentums (Leipzig 1900) gerichtet war und der Verteidigung des Katholizismus dienen sollte. Harnack hatte das Wesen des Christentums im Rückgang auf den Jesus der Geschichte bestimmt und dessen Verkündigung auf den liebenden Vatergott, den unendlichen Wert der Menschenseele und das Gebot der Nächstenliebe bezogen. Es war ein Jesus, der den Vorstellungen des liberalen Protestantismus im 19. Jahrhunderts perfekt entsprach und alles Fremdartige an Jesus ausblendete; ein Jesus, »der dem Bürgertum der späten Kaiserzeit in Berlin, seinem Individualismus und seinem Fortschrittsglauben auf den Leib geschnitten war, der dieses Lebensgefühl absegnete und ihm gleichsam eine religiöse Legitimierung verlieh« (Peter Neuner, Streit 65). Die Botschaft Jesu vom Reich Gottes wurde auf das innerliche Reich der Seele bezogen. Die Entwicklung der Kirche zu einer »Kultusanstalt« mit der Unterscheidung von Klerikern und Laien, der darin begründeten Vermittlung göttlichen Heils durch das Kultpersonal, mit der Hierarchisierung und Verrechtlichung – all das sei Abfall vom Evangelium Jesu.

Dies war die Position, die Loisy erschüttern wollte. Seine Absicht war also apologetisch und keinesfalls als Angriff auf die katholische Kirche gedacht. Er griff die apokalyptische Deutung der Verkündigung Jesu auf, die durch Johannes Weiß begründet und später auch von Albert Schweitzer vertreten wurde: Jesus in Erwartung der Weltenwende, die sich aber nicht erfüllt hat. Deshalb konnte nach Ostern die Verkündigung Jesu nicht einfach wiederholt werden; sie musste eine neue Gestalt annehmen. Diese ist nicht als Abfall vom Ursprung zu verstehen, sondern die Voraussetzung dafür, dass das Evangelium auch unter geänderten Bedingungen weiter verkündet werden konnte. Die Fortsetzung des zitierten Satzes von der Gegenüberstellung von Reich Gottes und Kirche lautet: Die Kirche 
»kam und erweiterte die Form des Evangeliums, die unmöglich erhalten werden konnte, wie sie war, seitdem Jesu Aufgabe mit dem Leiden abgeschlossen war. Wenn man das Prinzip aufstellt, daß alles nur in seinem ursprünglichen Zustand Existenzberechtigung hat, so gibt es keine Einrichtung auf der Erde und in der menschlichen Geschichte, deren Legitimität und Wert nicht bestritten werden könnte … Eine Absurdität würde es sein zu verlangen, dass Christus die Interpretationen und Anpassungen, welche die Zeit fordern musste, im Voraus schon bestimmt hätte, denn sie hatte keine Berechtigung, früher als notwendig da zu sein … Die Perspektive des Reiches hat sich erweitert und verändert, die seiner endgültigen Ankunft ist zurückgetreten, aber der Zweck des Evangeliums ist der Zweck der Kirche geblieben« (Alfred Loisy, Evangelium und Kirche 113f)

Die Zeit war noch lange nicht reif für eine derartige geschichtliche Betrachtung: Zum Beginn des Pontifikats Pius' X. wurde das Werk, zusammen mit weiteren desselben Autors auf den Index der verbotenen Bücher gesetzt. Damit war das Vorgehen gegen Loisy allerdings noch nicht ans Ende gekommen. Konsequente Vertreter des Antimodernismus sahen die Maßnahme der Zensur als ungenügend an und verfolgten eine weiter reichende Verurteilung.

So brachte das Jahr 1907 zwei antimodernistische Dekrete: zum einen den Syllabus Pius' X. vom 3. Juli mit dem Titel Lamentabili sane exitu, der 65 zu verwerfende Sätze auflistete, zum andern die Enzyklika Pascendi dominici gregis, die bereits am 8. September folgte. Durch die Öffnung der Archive der Glaubenskongregation ab 1998 ist heute die Vorgeschichte dieser Dokumente rekonstruierbar (vgl. Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg 2007, 89-119).

Lamentabili sane exitu

Lamentabili richtete sich fast ausschließlich gegen Alfred Loisy. »Das Ziel des Dekrets war es vor allem, Loisy zu stoppen und eine bestimmte Diskussion in Frankreich zu unterbinden« (Claus Arnold, Kleine Geschichte 105). Die Entstehung des Dokuments zog sich lange hin, die Vorarbeiten begannen bereits im Jahr 1904. Tatsächlich gab es Widerstand innerhalb des Sanctum Officium, das entsprechend seiner Tradition erst nach gründlicher Prüfung entscheiden wollte, und es kam im Verlauf der Beratungen zu einer Abmilderung der anfänglichen Entwürfe. Auf die theologische »Qualifikation«, die Angabe des Sicherheitsgrades der Verurteilungen, etwa als »häretisch«, wurde verzichtet. So scheint die zeitlich dichte Folge der beiden Dekrete im Jahr 1907 auch darin begründet zu sein, dass die antimodernistischen Kräfte mit Lamentabili nicht zufrieden waren, weil es darin nicht zu einer umfassenden Verurteilung des Modernismus gekommen war.

Aus Sicht der Exegese ist Lamentabili dennoch von nicht geringer Bedeutung, denn es war das Werk eines historisch arbeitenden Exegeten, auf das die verurteilten Sätze fast durchweg anspielten. Eingeschlossen war eine grundsätzliche Absage an historisch-kritische Bibelauslegung. Verurteilt wird ein Satz, der das Methodenrepertoire der Exegese an den Standards der profanen Wissenschaften bemisst und methodisch vom Charakter der Bibel als heiliger Schrift absieht. Als falsch gilt also folgendes Urteil:
»Der Exeget muß, sofern er mit wirklichem Nutzen die biblischen Studien betreiben will, jede vorgefaßte Meinung von einem übernatürlichen Ursprung der Heiligen Schrift beiseite setzen und diese nicht anders auslegen als andere Bücher rein menschlichen Ursprungs.« (Satz 12) 
Auch einige Konsequenzen solcher Exegese im Blick auf die Beurteilung biblischer Schriften wurden verworfen, etwa die historische Skepsis gegenüber manchen Überlieferungen der Evangelien oder grundsätzlicher gegenüber dem Johannes-Evangelium. Als falsch gilt auch folgende Aussage:
»Die Erzählungen bei Johannes sind nicht eigentlich Geschichte, sondern eine mystische Kontemplation über das Evangelium; die in seinem Evangelium enthaltenen Reden sind theologische Betrachtungen über das Geheimnis des Heiles, ohne jede historische Wahrheit.« (Satz 16)
Der Gedanke einer geschichtlichen Entwicklung war nicht erschwinglich, sei es bezogen auf Glaubenslehren oder kirchliche Verfassung: Alles musste bereits bei Jesus und den ersten Christuszeugen präsent sein (Christologie, Sakramente, Hierarchie). Hier sollen zwei Beispiele genügen. Verworfen werden folgende Aussagen:
»Die Lehre von Christus, so wie Paulus, Johannes und die Konzilien von Nizäa, Ephesus, Chalcedon sie darbieten, ist nicht jene, die Jesus gelehrt hat, sondern die, welche das christliche Bewußtsein in Bezug auf Jesus sich gebildet hat.« (Satz 31)  
»Im Sinne Christi lag es nicht, die Kirche als eine Gesellschaft zu begründen, die eine lange Reihe von Jahrhunderten hindurch auf Erden bestehen sollte; vielmehr stand nach der Meinung Christi das Himmelreich zugleich mit der Weltenwende unmittelbar bevor.« (Satz 52)
Während Lamentabili, wie angedeutet, in einem langwierigen Prozess in den zuständigen vatikanischen Gremien entstand, ist die Enzyklika Pascendi »relativ schnell in einem kleinen Beraterkreis um den Papst entworfen worden« (Claus Arnold, Kleine Geschichte 109). Dazu mehr in der nächten Folge.

Kommentare

Andreas Metge hat gesagt…
DANKE!
Bitte bald fortsetzen!
Was mich beschäftigt aus der pastoralen Praxis heraus: Ist hier evtl. auch und ganz konkret ein Grund zu finden für die Schwierigkeit (ich pauschaliere) "der Kirche", sprachlich an den Lebenswirklichkeiten "der Menschen" oder "der Leute" anzukoppeln?

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