Antimodernismus und Exegese (2)

Was bisher geschah: Der antimodernistische Kurs Pius' X. wurde dargestellt als Fortsetzung der systematischen Abschottung der katholischen Kirche von allen geistesgeschichtlich relevanten Entwicklungen des 19. Jahrhunderts, mit der Folge, dass historisches Arbeiten in der Bibelexegese verboten wurde. Der Versuch einer historisch verantworteten Exegese von Alfred Loisy wurde nicht nur mit Zensur belegt, sondern war auch die Zielscheibe des ersten der antimodernistischen Dekrete aus dem Jahr 1907: Lamentabili sane exitu (s. hier). 


Pascendi dominici gregis

Während Lamentabili, wie in der ersten Folge bereits erwähnt, in einem langwierigen Prozess in den zuständigen vatikanischen Gremien entstand, ist die Enzyklika Pascendi »relativ schnell in einem kleinen Beraterkreis um den Papst entworfen worden« (Arnold, Modernismus 109). Die Akten belegen, dass Pius X. nicht unbedarft unter den Einfluss antimodernistischer Kreise geriet, sondern selbst Antimodernist war (vgl. ebd. 107f).

Die Enzyklika konstruiert den Modernismus als ein großes System, das dessen Vertreter nur aus taktischen Gründen nicht offen legten. Sie wollten verschleiern, dass ihre Angriffe auf die Lehre der Kirche in einem großen Zusammenhang stehen. 

»Die Modernisten … gebrauchen den schlauen Kunstgriff, ihre Lehren nicht systematisch und einheitlich, sondern stets nur vereinzelt und aus dem Zusammenhang gerissen vorzutragen, um den Schein des Suchens und Tastens zu erwecken, während sie doch fest und entschieden sind« (hier der Einfachheit halber zitiert nach der Wiedergabe des Textes bei Neuner, Streit 296 [er folgt der autorisierten Ausgabe: Rundschreiben unseres Heiligsten Vaters Pius X. über die Lehren der Modernisten, Freiburg 1908]; außerdem gebe ich die Nummern der englischen Übersetzung an, hier: Pascendi 4). 
Der Modernist spiele, so die Enzyklika weiter, sieben Rollen in einer Person: Philosoph, Gläubiger, Theologe, Historiker, Kritiker, Apologet, Reformator. Werfen wir für unser Thema ein kurzes Schlaglicht auf die Beschreibung des Historikers und Kritikers.

Die Arbeit des Historikers wird auf drei Prinzipien zurückgeführt, die der Historiker (entgegen eigener Beteuerung) vom Philosophen empfange. (1) Dass Gott methodisch aus der historischen Betrachtung ausgeschlossen wird, verhandelt die Enzyklika unter Agnostizismus und macht diesen für die Unterscheidung zwischen der Ebene der Geschichte und des Glaubens verantwortlich. (2) In der Beurteilung der Glaubenszeugnisse durch den Historiker würde das Prinzip der Verklärung angewandt, dem zufolge »z.B. bei Christus alles, was über menschliche Verhältnisse hinausgeht«, dem Glauben zu- und der Geschichte abgesprochen wird. (3) Das dann noch übrig bleibende Material müsse dem Prinzip der Entstellung zufolge dahingehend untersucht werden, ob es der Logik der Tatsachen entspreche. Damit ist offensichtlich die Berücksichtigung des historischen Kontextes als eines Kriteriums für historische Urteile gemeint. 

Die Anwendung dieser Prinzipien führe zu einem Bestand von Quellen für die wirkliche Geschichte, während das Ausgeschiedene der Geschichte des Glaubens oder der inneren Geschichte zugewiesen werde, und dies führe etwa zu einem 
»doppelten Christus: einen wirklichen und einen anderen, der in Wirklichkeit nie existiert hat, sondern dem Glauben angehört; … ein solcher ist z.B. der Christus, den das Johannesevangelium darstellt« (bei Neuner 325f; Pascendi 31). 
Die Ausführungen verwerfen also die Anwendung historischer Methoden auf die Glaubenszeugnisse. Nicht unberechtigt ist die Kritik an der angeblichen Voraussetzungslosigkeit dieser Methoden, die sich in dem Vorwurf äußert, der Historiker gebe nur vor, frei von Philosophie zu sein. Das Objektivitätsideal des Historismus war gewiss überzogen. Die Enzyklika zeigt freilich keinerlei ernsthaften Versuch, historisches Arbeiten in der Theologie zu verstehen, und stellt sie als so absurdes Unternehmen dar, dass der Erfolg der Modernisten zum Problem wird: Es scheint 
»sehr zu verwundern, wie eine solche Kritik heutzutage bei Katholiken so viel Achtung genießen kann« (bei Neuner 329; Pascendi 34). 
Erklärt wird der Umstand mit dem engen Zusammenschluss der historisch arbeitenden Theologen untereinander und mit deren aggressiver Öffentlichkeitsarbeit. So würden viele getäuscht, »die sich bei genauerem Zusehen entsetzt abwenden würden« (bei Neuner 329; Pascendi 34).

Disziplinarsische Maßnahmen

Um diese Gefahr abzuwenden, werden scharfe disziplinarische Maßnahmen angeordnet. Dazu gehört die Abhaltung von oder Entfernung aus dem Lehramt eines jeden, der 
»irgendwie vom Modernismus angesteckt ist« oder »in der Geschichte oder der Archäologie oder der Exegese Neuerungen sucht« (bei Neuner 345; Pascendi 48). 
Solche Leute sind auch vom Priesteramt fernzuhalten. Ausführlich wird den Bischöfen eingeschärft, modernistische oder vom Modernismus angesteckte Bücher zu verbieten und von den Seminaristen und Hörern an der Universität fernzuhalten. Selbst von einem andernorts erteilten Imprimatur soll man sich in der Wachsamkeit und Strenge nicht beirren lassen. Auch die katholischen Buchhändler werden in die Pflicht genommen, die Verbreitung modernistischer Literatur zu verhindern. Ausreichend zu bestellende Zensoren haben bereits die Veröffentlichung solcher Schriften zu unterbinden. Eine vom Bischof einzusetzende Aufsichtsbehörde soll den 
»Anzeichen und Spuren des Modernismus sowohl in Büchern als in Lehrvorträgen … eifrig nachforschen« (bei Neuner 351; Pascendi 48). 
Die Bischöfe werden verpflichtet, über die Ausführung der Anordnungen und die theologische Bildung des Klerus Bericht zu erstatten, und zwar 
»ein Jahr nach Veröffentlichung gegenwärtigen Schreibens, und später alle drei Jahre dem Apostolischen Stuhle gewissenhaft und unter Eid« (bei Neuner 353; Pascendi 57). 
Der Antimodernisteneid

Offensichtlich war man nicht davon überzeugt, mit diesen Anordnungen eine ausreichende antimodernistische Agenda gesetzt zu haben. Das Motu proprio Praestantia scripturae vom 18. November 1907 belegt mit Exkommunikation, wer einen der in Lamentabili oder Pascendi verworfenen Sätze vertrete. Und im Motu proprio Sacrorum Antistitum vom 1. September 1910 wurde eine weitere Maßnahme verfügt: der so genannte Antimodernisteneid, der vom Klerus abzulegen war und »eine Kurzfassung der wichtigsten antimodernistischen Positionen« (Neuner, Streit 106) enthielt: Erkenntnis und Beweis Gottes aus der Natur, Wunder und Weissagungen als sichere äußere Beweise der Offenbarung; Stiftung von Kirche und Papsttum direkt durch Christus; Ablehnung der Entwicklung von Dogmen; Ablehnung der Trennung von Geschichte und Glaube sowie der Anwendung historisch-kritischer Methoden in der Exegese.

In der Diktion des Eides liest sich die Passage, die die Exegese betrifft, folgendermaßen: 
»Ich verwerfe ebenso diejenige Methode, die heilige Schrift zu beurteilen und auszulegen, die sich unter Hintanstellung der Überlieferung der Kirche, der Analogie des Glaubens und der Normen des Apostolischen Stuhles den Erdichtungen der Rationalisten anschließt und – nicht weniger frech als leichtfertig – die Textkritik als einzige und höchste Regel (criticem textus velut unicam supremamque regulam) anerkennt.« 
Die Sprache zeigt, dass es in erster Linie um Abgrenzung geht, ohne den Willen oder den Versuch, der kritisierten Sache gerecht zu werden. Das ist bei einer Maßnahme wie dem verlangten Eid natürlich auch nicht anders zu erwarten, kann aber als Verdichtung des Stils angesehen werden, in dem gegen die »Modernisten« vorgegangen wurde. Dass der Begriff der Textkritik in der zitierten Passage kaum im Sinne der Fachterminologie gebraucht ist (vgl. Klauck, Exegese 369), ist ein weiterer Beleg für die Kluft zwischen Lehramt und Exegese.

Entscheidungen der Päpstlichen Bibelkommission

Die scharfe Gangart Pius' X. gegen die 
»moderne« Exegese wird in dem bereits erwähnten Motu proprio vom 18. November 1907 noch dadurch unterstrichen, dass die Arbeit der von Leo XIII. eingesetzten Bibelkommission auf den Plan gerufen wird und ihre Entscheide als verpflichtend eingeschärft werden. Entsprechend entschied die Bibelkommission in den folgenden Jahren (wie auch schon zuvor) etliche Fragen der Schriftauslegung in deutlich antimodernistischer Ausrichtung. Einige Beispiele aus den Jahren 1906 bis 1914: 

(1) Zum Pentateuch wird die Verfasserschaft des Mose festgehalten, auch wenn dabei die Hilfe von Mitarbeitern, die Verwendung von Quellen und einige Veränderungen am Text im Laufe der Überlieferung zugestanden werden (vgl. DH 3394-3397; Letzteres empfahl sich wenigstens wegen der Erzählung von Tod und Begräbnis des Mose im Buch Deuteronomium). 
(2) Das Verständnis der ersten drei Kapitel des Buches Genesis wird auf einen historischem Sinn festgelegt. Abgelehnt wird die Auffassung, es handle sich nicht um »Erzählungen wirklich geschehener Dinge«, worunter ausdrücklich auch die »besondere Erschaffung des Menschen«»die Bildung der ersten Frau aus dem ersten Menschen« sowie »die ursprüngliche Glückseligkeit der Stammeltern im Stande der Gerechtigkeit, Unversehrtheit und Unsterblichkeit« gehört. Angesichts dieser Position ist es ein schwacher Trost, dass manche Aussagen der biblischen Urgeschichte als offen für unterschiedliche Auslegung erklärt werden und deren Bezug auf die »Eigentümlichkeit wissenschaftlicher Rede« abgelehnt wird (vgl. DH 3512-3519). 
(3) Das Matthäus-Evangelium wird als ältestes Evangelium dem Apostel Matthäus als Verfasser zugeschrieben, eine Abfassung nach 70 zurückgewiesen, die Übereinstimmung der griechischen Fassung mit dem in der Muttersprache des Apostels verfassten Werk behauptet und die Historizität der Kindheitsgeschichte eingeschärft (vgl. DH 3561-3567). Ausdrücklich verworfen wird die Zweiquellentheorie: Sie entspricht nicht den von der Bibelkommission dargelegten Abfassungsverhältnissen und kann nicht frei verfochten werden (vgl. DH 3578). 
(4) Die Pastoralbriefe (1/2Tim; Tit) stammen von Paulus; auch die Annahme, sie seien aus Fragmenten des Apostels von anderen zur überlieferten Gestalt komponiert worden, wird abgelehnt (vgl. DH 3587-3588). Schließlich wird auch der Hebräerbrief auf Paulus zurückgeführt, auch wenn zugestanden wird, dass die überlieferte Form nicht unbedingt von Paulus stammen muss (vgl. DH 3591-3593). 

Sachlich argumentiert wird in den Responsa der Bibelkommission nicht. Es werden allein Entscheidungen mitgeteilt, als bejahende oder verneinende Antwort auf zuvor gestellte Fragen. Meist wird das Gewicht der Tradition in die Waagschale geworfen und damit gewissermaßen die Diskussion für beendet erklärt. Tatsächlich wurde die Diskussion abgewürgt und für eine bestimmte Zeit unterbunden; auf Dauer beenden ließ sie sich nicht. Die nächsten Folgen dieser Artikelserie werden dies zeigen (Teil 3). 


Literatur
  • Claus Arnold, Kleine Geschichte des Modernismus, Freiburg 2007. 
  • Heinrich Denzinger, Enchiridion symbolorum, definitionum et declarationum de rebus fidei et morum - Kompendium der Glaubensbekenntnisse und kirchlichen Lehrentscheidungen, hrsg. von Peter Hünermann, 43. Aufl., Freiburg 2010 (zitiert als DH + Nr.). 
  • Hans-Josef Klauck, Die katholische neutestamentliche Exegese zwischen Vatikanum I und Vatikanum II, in: Ders., Religion und Gesellschaft im frühen Christentum. Neutestamentliche Studien, Tübingen 2003, 360-393. 
  • Peter Neuner, Der Streit um den katholischen Modernismus, Frankfurt 2009. 

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