Sonntagsevangelium (150)

30. Sonntag im Jahreskreis (A): Mt 22,34-40

In der Erzählung von der Frage nach dem größten Gebot hat Matthäus seine Vorlage Mk 12,28-34 in starkem Maß verändert. Bereits die szenische Einleitung unterscheidet sich. Bei Markus geht der Schriftgelehrte auf Jesus zu, weil der den Sadduzäern gut geantwortet hatte (s. Mk 12,18-28); er sucht das Gespräch mit einem kompetenten Lehrer. Im Matthäus-Evangelium dagegen entsteht der Eindruck, dass die Pharisäer für die geschlagenen Sadduzäer in die Bresche springen: eine konzertierte Aktion der Pharsiäer und Sadduzäer, die mit der Frage nach der Erlaubtheit der Kaisersteuer begann (22,15-22), mit der nach der Totenauferstehung fortgesetzt wurde (22,23-33) und jetzt das Thema des wichtigsten Gebotes der Tora behandelt. Pharisäer und Sadduzäer wechseln sich  dabei als Gegner Jesu ab. Zum polemischen Kontext passt auch, dass Matthäus die Passage übergeht, die vom Einverständnis zwischen Fragesteller und Jesus handelt (Mk 12,32-34).

Aus der Antwort Jesu lässt Matthäus den Bezug auf Dtn 6,4 aus (»Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist einziger Herr«). Wahrscheinlich wollte er angesichts der Fragestellung die Antwort Jesu auf die unmittelbaren Aufforderungen konzentrieren.  Zum Gebot der Gottesliebe bietet er wie der alttestamentliche Bezugstext eine Dreierreihe: »Du sollst den Herrn, deinen Gott lieben mit deinem ganzen Herzen, mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken«. Bei Markus steht hier ein viertes Element (»mit deiner ganzen Kraft«), das sich dem zitierten Text Dtn 6,5 verdankt. Der Bezug auf das Denken fehlt dort allerdings. Matthäus hat also einerseits die markinische Form an den alttestamentlichen Wortlaut angeglichen (Dreier- statt Viererreihe), anderseits aber ein Element stehen lassen, das in Dtn 6,5 nicht bezeugt ist. Eine Erklärung dieses Befundes ist schwierig, möglicherweise stehen im Hintergrund unterschiedliche Texttraditionen zu der zitierten Passage. Die Grundaussage ist aber klar: Es geht um den Einsatz aller dem Menschen zur Verfügung stehenden Fähigkeiten und Kräfte.


Zwar ordnet auch Matthäus wie Markus das Gebot der Gottesliebe vor und nennt es »das große und erste Gebot« (22,38). Dennoch nähert er die beiden zitierten Gebote noch stärker aneinander an, als dies bei Markus der Fall ist. Ausdrücklich heißt es: Das Gebot der Nächstenliebe ist dem der Gottesliebe gleich (22,39). Damit ist die Differenzierung zwischen »erstem« und »zweiten« Gebot im Sinne einer Wertung letztlich aufgehoben.

Beide Gebote werden außerdem durch einen weiteren Zusatz zusammengebunden. Matthäus fügt die grundsätzliche Aussage hinzu, an beiden Geboten »hingen Gesetz und Propheten« (22,40). Damit  ist nicht gemeint, dass die Gebote der Gottes- und Nächstenliebe das Kriterium seien, an dem sich die Gültigkeit der Einzelweisungen entschiede. Matthäus unterscheidet zwar zwischen großen und weniger wichtigen Geboten, lässt aber auch die kleinsten gelten (5,18f; 23,23). So ist die Gottes- und Nächstenliebe in einem weiteren Sinn als Mitte der Schrift zu verstehen: Die Einzelgebote stehen in innerer Verbindung zu ihr.

Zwar nicht im Blick auf die Gültigkeit von Toraweisungen, aber auf die Differenzierung zwischen großen und kleinen Geboten kann das Hauptgebot als Maßstab dienen. Einen Hinweis gibt die Aussage in 23,23: Recht, Erbarmen und Treue sind im Vergleich zu Verzehntungsvorschriften das Gewichtigere. Auch an anderen Stellen setzt Matthäus einen starken Akzent auf das mitmenschliche Ethos als den in Tora und Propheten geoffenbarten Gotteswillen. Im Verhältnis Jesu zu Sündern wie auch im Zusammenhang der Sabbatfrage wird Hos 6,6 zitiert: »Erbarmen will ich, nicht Opfer« (9,13; 12,7). Am Ende der Weisungen der Bergpredigt erscheint als Quintessenz von Gesetz und Propheten die »goldene Regel«: »Alles nun, was ihr wollt, dass euch die Menschen tun, tut auch ihr ihnen. Dies ist nämlich das Gesetz und die Propheten« (7,12).

Wenn man die goldene Regel als Umschreibung des Gebots der Nächstenliebe versteht, fällt das Fehlen des Bezugs auf die Gottesliebe auf. In beiden Fällen (7,12; 22,40) wird doch eine Bündelung des Anspruchs von Tora und Propheten geboten. Dies muss nicht als Widerspruch oder Nachlässigkeit gedeutet werden. Was Gottesliebe inhaltlich bedeutet, wird in 22,34-40 ja nicht entfaltet. Legt man von der jüdischen Tradition her aus, besteht die Liebe zu Gott im gehorsamen Tun seiner Weisung (wie auch die Nächstenliebe kein vages Gefühl ist, sondern sich im Handeln äußert: s. Lev 19,11-18.34). Wenn diese Weisung Gottes sich vor allem auf das rechte Verhalten den Mitmenschen gegenüber bezieht, ist die dem Nächsten erwiesene Liebe zugleich Ausdruck der Liebe zu Gott.

Kommentare

Gerhard Mentzel hat gesagt…
Was soll daran neu oder einzigartig sein, wenn ein von christlichen Verfassern dem Apolllonius von Tyna nachgestellter Wanderprediger jetzt eine Lebensweisheit vom Stapel lässt, die in der Antike längst philosophisch-theologisches Thema war?

Gott sei Dank wissen wir, dass es hier nicht um eine Weisheit ging, die sich aus dem Wissen aus aller Welt ergibt, sondern kreativer, schöpferischer Wirklichkeit des einen unsagbaren Grundes, der im persischen Exil bedacht wurde, als Wort galt.

Oder anders: Ohne die Liebe zur Schöpfung und ihrem Grund ist keine Nächstenliebe bzw. menschliche Weisheit zu machen.

Doch solange die Neutestamentler nur einen jungen Guru gelten lassen, ist die christliche Lehre für die aufgeklärte Welt nur ein schlechter Witz, Lug und Trug für Gestrige.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Weder Apollo, der für die Einheit, Licht, Heilung gleichzeitig Kunst, Literaturform steht hatte zwei Beine. Noch scheint der die Welltweisheit zusammengetragene Apollonius nach Indien bzw. rund um die Welt gelaufen zu sein. Die noch philosophisch auf die Götter bezogene Literaturvorlage, der dann auf jüdische Weise, im bildlosen Monotheismus sprechende Josua, lat. Jesus, hat im Kulturwandel bzw. evolutionären Fortschritt das auf neue Beine gestellt, was für Hebräer schöpferische Bestimmung bzw. Wort war, inzwischen auch philosophisch erklärt wurde.

Jesus ist weder der antiken Literatur nachempfunden, noch war er Gegner philosophisch-heidnischer Vernunftpersonifikationen.

Auch das Gebot der Liebe gegenüber der unsagbaren schöpferischen Instanz bzw. schöpferischen Gesamtheit, die der Nächstenliebe (heute auch ökologischer oder sozialer Vernunft) vorausgeht entspringt einem NT der Zeitenwende bzw. Neuverständnis kreativer Vernunft in menschlicher Kultur.

Die Sonne steigt gerade aus dem Meer, das ich Richtung Palästina im Blick aus dem Fenster habe, ich muss raus. Ich bezahl doch keine Kirchen- und sonstige Steuer, dass kirchliche Wissenschafter die Welt im Aberglaube an einen jungen göttlichen Guru halten!

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