Rein und unrein

In den Kommentaren kam neulich die Frage auf, wie das biblische Konzept von Reinheit und Unreinheit zu verstehen sei (s. hier). Im Folgenden versuche ich auf die Frage zu antworten. Das ist kein besonders adventliches oder weihnachtliches Thema, einen kleinen kirchenjahreszeitlichen Abstecher habe ich dennoch unternommen. 

Im Alten Testament wird in unterschiedlichen Zusammenhängen von Reinheit und Unreinheit gesprochen. In weisheitlichen und prophetischen Überlieferungen kann mit der Rede von Unreinheit auf moralische Verhältnisse gezielt werden (z.B. Spr 20,9Jes 6,5; Ez 36,17), dies ist aber bereits Metaphorisierung eines ursprünglich anderen Konzepts. Darin geht es allgemein gesprochen um die Kennzeichnung dessen, was von der kultischen Begegnung mit Gott ausschließt oder vom Menschen grundsätzlich zu meiden ist. Unfähig zur Teilnahme am Kult wird man durch alles, was mit den Sphären von Sexualität oder Tod verbunden ist. Menschen mit Hautanomalien sind nicht nur vom Kult ausgeschlossen, sondern können auch von der menschlichen Gemeinschaft abgesondert werden. Bestimmte Tiere kommen nicht als Nahrung in Frage. Gegenstände, die mit unreinem Sphären in Berührung gekommen sind, können diese Qualität übertragen.

Reine und unreine Tiere

Welche Vorstellungen hinter den Bestimmungen bestehen, worin sie begründet oder veranlasst sind, wird in den alttestamentlichen Texten nicht gesagt. Deshalb ist die Deutung schwierig und umstritten. Hinter der Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren scheint ein Ordnungsdenken zu stehen. In der Welt wird eine Ordnung erkannt. Was ihr entspricht, ist rein; was sie durchbricht, ist unrein und zu meiden. Das Normale ist, dass Paarhufer Wiederkäuer sind. Paarhufer, die nicht wiederkauen, oder Wiederkäuer, die keine gespaltenen Hufe haben, durchbrechen diese Normalität und sind unrein (s. Lev 11,3-8). Wassertiere haben gewöhnlich Flossen und Schuppen. Was diese Bedingung erfüllt, ist rein. »Alles im Wasser, was keine Flossen und Schuppen hat, sei euch ein Gräuel« (Lev 11,12). Nicht immer wird das Ordnungssystem genannt. Zu den Vögeln wird nur aufgezählt, welche unrein sind (11,13-19; s.a. 11,29f  zu Kleintieren am Boden). Sofern Begründungen geboten werden, zeigt sich aber: Unreinheit besteht dort, wo gegebene Abgrenzungen durchbrochen werden – deshalb vielleicht auch die Aufmerksamkeit für Hautkrankheiten in Lev 13f. Durch die irreguläre Körperöffnung wird eine eigentlich gegebene Grenze geschwächt.

Kultische Reinheit

Die Sorge um kultische Reinheit gründet in der Vorstellung, dass der Mensch Gott wegen dessen Heiligkeit nur in einem Zustand gegenübertreten kann, der alles Widergöttliche ausschließt. Dieses »Widergöttliche« nimmt wohl uralte Tabuvorstellungen auf, die sich in Grundzügen in vielen anderen alten Religionen finden. Im Hintergrund steht die Erfahrung von Kräften, die Macht über den Menschen gewinnen können und deshalb in der kultischen Begegnung mit Gott zu meiden sind (symbolistische Deutungen können dagegen in die Richtung gehen, die auch in der eingangs erwähnten Anfrage genannt wurde: Unreinheit bezogen auf Lebensschwund und Tod; s.a. den Literaturlink unten). Dazu zählen vor allem Sexualität und Tod, damit zusammenhängend auch das Blut. Der monotheistische Anspruch im Glauben Israels bringt des Weiteren mit sich, dass alles unrein macht, was mit dem Dienst an fremden Göttern zusammenhängt (vgl. Johann Maier, Zwischen den Testamenten, Würzburg 1990, 222).

Tod und Unreinheit

Da archaische Vorstellungen aufgegriffen sind, überrascht nicht, dass der Gedanke kultischer Reinheit oder Unreinheit bestimmt ist von einer uns heute fremden Dinglichkeit. Wer im wörtlichen Sinn in Berührung kommt mit einem der genannten Bereiche, wird kultisch unrein; ob dies absichtlich oder unabsichtlich geschieht, spielt keine Rolle: Die Berührung allein entscheidet. So wird etwa kultisch unrein, wer einen Leichnam berührt, da er mit der Sphäre des Todes in Verbindung gekommen ist. Das Beispiel zeigt deutlich den Unterschied zwischen kultischer und moralischer Reinheit. Es ist ja für Juden Pflicht, die Toten der Familie zu bestatten, so dass kultische Unreinheit in diesem Fall unumgänglich, ja moralisch geboten ist. Durch diese Tat wird der Mensch also nicht schuldig vor Gott, sondern nur in einen Zustand versetzt, der ihn unfähig macht zur kultischen Begegnung mit Gott für eine bestimmte Zeit bzw. bis zum Vollzug bestimmter Reinigungsriten.

Sexualität und Unreinheit

Analog gilt dasselbe für die Sexualität. Sie macht kultisch, nicht moralisch unrein, weil durch sie die Menschen mit geheimnisvollen Kräften in Berührung kommen. Entsprechend wird den Israeliten, die am Sinai Gott begegnen, vorher geboten, sich zu »heiligen«, und d.h. eine bestimmte Zeit vor der Begegnung keinen Geschlechtsverkehr zu haben (vgl. Ex 19,15). Auch was dinglich mit Sexualität zusammenhängt, hat verunreinigende Wirkung, also Menstruationsblut und Wochenfluss bei der Frau, Sperma bei Mann. Nach Lev 15,22 z.B. wird jeder unrein, der irgendetwas berührt, worauf eine blutflüssige Frau gesessen ist. Berücksichtigt man, was oben über den Hintergrund solcher Bestimmungen gesagt wurde, ist klar, dass die Sexualität hier nicht abgewertet ist. Man muss in jenen kultischen Bestimmungen vielmehr die Anerkennung der Macht sehen, die die Sexualität über die Menschen hat; und daraus folgend den damaliger Welterfahrung entsprechenden Versuch, zu verhindern, dass diese Macht die Menschen zu ihrem Unheil beherrscht.

»Reine Magd«

Durch den Verzicht auf sexuelle Akte rein zu sein, hat also biblisch nichts damit zu tun, dass man in sich negativ gewertete Handlungen unterließe. Wenn es im Weihnachtslied zu Maria heißt, sie sei trotz der Geburt eines Kindes »reine Magd« geblieben, so liegt dem ein anderer Begriff von Reinheit zugrunde. Es ist nicht gemeint, Maria sei entgegen den Bestimmungen von Lev 12,1-4 durch die Geburt nicht kultisch unrein geworden und habe entsprechend kein Reinigungsopfer darbringen müssen; Reinheit meint hier die grundsätzliche Abstinenz von sexuellen Handlungen, weshalb in dieser späteren Traditionslinie das Interesse an der bleibenden Jungfräulichkeit Mariens entsteht. Greifbar ist diese Linie erstmals im »Protevangelium des Jakobus« (2. Hälfte des 2. Jahrhunderts), in dem festgestellt wird, dass die Geburt Jesu das Hymen der Maria nicht verletzt habe (19f). Dass sich an Maria keine Spuren sexueller Akte zeigen, auch nicht nach der Geburt Jesu, weist auf eine grundsätzlich reservierte Haltung der Sexualität gegenüber. Wir finden sie auch sonst in Schriften aus dem 2. Jahrhundert, etwa den Paulusakten, in denen Paulus als Prediger der Enthaltsamkeit gezeichnet wird, der er nach Ausweis seiner Briefe nicht war.

Zum Befund in den Evangelien

In den Evangelien stoßen wir im Zusammenhang der alttestamentlichen Reinheitstora vor allem auf die Diskussion um Speisegebote. Dabei zeigt sich deutlich, wie der Standpunkt des jeweiligen Evangelisten die Behandlung des Themas prägt. Im Markus-Evangelium, das in heidenchristlichem Milieu entstanden ist, werden die Speisegebote kurz und bündig für aufgehoben erklärt. Aus dem Wort Jesu, dass nichts, was von außen in den Menschen komme, ihn unrein machen könne (Mk 7,15-19), wird gefolgert: »Damit erklärte er alle Speisen für rein« (7,19). Der Judenchrist Matthäus übernimmt diese Folgerung nicht, sondern wendet das Jesuswort auf die Ausgangsfrage der Szene an: »Mit ungewaschenen Händen zu essen macht den Menschen nicht unrein« (Mt 15,20). Hier bezieht Jesus eine Position, die von der der Pharisäer abweicht, aber die Speisegebote mit ihrer Unterscheidung von reinen und unreinen Tieren nicht grundsätzlich hinter sich lässt.

Das dürfte im Grundsatz der Haltung Jesu entsprechen, denn eine prinzipielle Aufhebung der Grenze von reinen und unreinen Speisen hätte deutlichere Spuren in der Jesustradition hinterlassen müssen. Der Befund im Lukas-Evangelium kann diese Sicht bestätigen. Dort ist nämlich die ganze Diskussion um rein und unrein nicht zu lesen. Der Grund für diese Auslassung dürfte darin liegen, dass Lukas in seinem zweiten Werk, der Apostelgeschichte, von der Geschichte der Urkirche erzählt. Und dabei zeigt sich, dass die Urkirche die Unterscheidung von rein und unrein keineswegs eindeutig hinter sich gelassen hat.

Urkirchliche Debatten 

In der ersten christlichen Generation wurde darum gerungen, zu welchen Bedingungen die Grenze Israels in der Verkündigung des Evangeliums überschritten werden durfte. Paulus vertrat die Position, Heiden könnten als Heiden aufgenommen werden, ohne sie auf die Einhaltung der Tora zu verpflichten. Dem stimmte auch Jakobus zu. Für ihn gab es aber, anders als für Paulus, keinerlei Kompromiss, was die Toratreue der Judenchristen betraf; sie mussten weiter das Mose-Gesetz vollumfänglich  halten. Im »antiochenischen Zwischenfall« (Gal 2,11-14) wird dies an den Speisegeboten deutlich: Eine Tischgemeinschaft von Juden- und Heidenchristen war für Jakobus ausgeschlossen, weil die Judenchristen dabei die Vorschriften der Tora übertreten hätten. Die Gegner des Paulus in Galatien lassen (wie die »Falschbrüder« auf dem Apostelkonzil: Gal 2,4; s.a. Apg 15,1) überhaupt keine Relativierung der Mose-Gesetzes zu, auch nicht im Blick auf die Heidenchristen, von denen sie Tora-Gehorsam verlangen.

Die Speisegebote sind kein nebensächlicher Teil der Tora, nicht nur weil sie das alltägliche Leben betreffen. Sie bestimmen (neben Beschneidung und Sabbat) entscheidend die Identität Israels nach innen und die Abgrenzung nach außen. Hätte Jesus sie bereits grundsätzlich aufgehoben, wären die Debatten um diese Frage im Urchristentum schwer zu verstehen – vor allem dass eine solche Haltung Jesu nach Ausweis der Quellen in den Debatten keine Rolle spielte.

Die Dominanz des Heidenchristentums seit dem Ende des 1. Jahrhunderts führte dazu, dass die Bestimmungen der Tora zu rein und unrein die christliche Tradition nicht mehr prägten. Was den Kult betrifft, so war das frühe Christentum nach antikem Verständnis kultlos, da keine Opfer in einem heiligen Bezirk dargebracht wurden. Die Sorge um kultische Reinheit, die in den alttestamentlichen Bestimmungen aus dargelegten Gründen greifbar ist, konnte auch deshalb den frühchristlichen Gottesdienst nicht bestimmen. Insofern besteht der in der Anfrage genannte Gegensatz zwischen christlicher Liturgie und dem Konzept kultischer Reinheit tatsächlich. Allerdings wurden später auch Elemente traditionell kultischen Denkens in die christliche Liturgie aufgenommen. Doch darüber sollen sich Berufenere als ich äußern.

Eine ausführliche Erfassung des alttestamentlichen Befundes findet sich in WiBiLex, dort mit einer Deutung des Phänomens im Rahmen eines religiösen Symbolsystems, in dem Reinheit mit unversehrtem Leben verbunden ist, Unreinheit mit dessen Beeinträchtigung oder Verlust. 

Kommentare

Volker Schnitzler hat gesagt…
Und einen harmlosen Reformjuden, der das Volk ermahnt, sich vor dem Essen die Hände zu waschen, den schlägt man ans Kreuz? ;-)

Ich halte die Entstehung des Heidenchristentums für eine ziemlich deutliche Spur. Schon Stephanus wird wegen ähnlicher Gesetzeskritik gesteinigt.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Und ich halte auch diese Darlegung zur Reinheit bzw. den Heidenchristen, bei denen nicht mehr die jüdische Tradition galt und die auch nicht mehr den Göttern opferten, für einen Beleg, dass es bei dem, der jetzt als Jesus den Ton angab, die schöpferische Vernunft ging.

Bei den gesamten urchristlichen Debatten, auch um die Reinheitsvorschriften, kann es bei Licht betrachtet nicht um die Ansichten eines Junghandwerkers gegangen sein, der alles etwas besser wissen wollte. Der gesamte Kulturwandel, die Abkehr von jüdischer Gesetzlichkeit, wie vom Götterkult kann in Vernunft bzw. Logik evolutionärer Entwicklung erklärt werden.
Volker Schnitzler hat gesagt…
Sie trauen dem Handwerk zu wenig zu! Vor allem dem Handwerk Gottes ;-)
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Ganz im Gegenteil.

Wie die sog. "Gottesfürchtigen" (Griechen, die aus dem Logos/nun in Vernunft erklärten Werden ihre Verantwortung ableiteten, sich von den traditionellen Göttervorstellungen abwandten und für den bildlosen Monotheismus begeisterten), denen wir ja auch die hier zur Debatte stehenden Kultlesetexte verdanken, gilt für mich nicht nur das heute als Evolution erklärte Werden als kreatives bzw. schöpferisches Handwerk dessen, der selbst/sonst unsagbar war.

Auch dass wir wissen, dass kein geheimnisvoller Guru, sondern die heute nur wissenschaftlich definierte kreative Vernunft unsere kulturelle Wurzeln (bei Christen mit Namen Jesus) ist und warum wir heute zurecht ihre kulturgerechte/menschliche Ausdrucksweise feiern bzw. warum Menschen einen gemeinsamen Kult brauchen, ist eine "Gabe", für die ich dem Gott meiner Väter dankbar bin.

Abaelard hat gesagt…
Kaum nachvollziehbar ist mir die bibl. Auffassung, dass etwas anderes als Unmoral einen Menschen unwürdig machen könnte, seinem Gott im Kult gegenüberzutreten.
Wenn Sexualität, Hautkrankheiten, Berührung mit Blut, Tod etc. keine moralische Unreinheit bewirken, weshalb sollten solche Faktoren dann auch nur irgendwie von Gott trennen?
Damit wird doch Gott unterstellt, er erachte gewisse Menschen als unwürdig zur Begegnung mit seiner heiligen-erhabenen Größe, obwohl sie sich moralisch gar nicht verfehlt haben?

Wenn "mit geheimnisvollen Kräften in Berührung kommen" nur kultische, nicht moralische Unreinheit verursacht (also Begegnungsunwürdigkeit im Kult), dann wirft das die Frage, ob Gott in solchen Texten noch nicht radikal monotheistisch gedacht wird als Schöpfer und Herr schlechthin aller vorfindlichen "geheimnisvollen Kräfte"(die als götzendienerische Kräfte eines um die Herrschaft über die Menschen konkurrierenden Gottes abgewehrt werden müssten).

Warum legt die Kirche wert darauf, dass solche Texte über kult. (Un-)Reinheit den Menschen von Heute zu Gehör gebracht werden?
Welche Lehre, welchen Nutzen soll der moderne Mensch daraus ziehen, außer dass er um eine ideengeschichtliche Information bereichert wird?
Was soll an solchen Texten Offenbarung sein, d.h. Selbstmitteilung Gottes zum Heil der gläubigen Empfänger?

Diese Fragen, wohl eher fundamentaltheologischer als exegetischer Natur) scheinen mir trotz der differenzierten Ausführungen von Prof. Häfner noch weiter erklärungsbedürftig zu sein.
Abaelard hat gesagt…
Korrekturen zum Beitrag vom
8. Februar 2015 um 13:53

1.
... wirft das die Frage AUF

2.
..., die DANN NICHT als götzendienerische Kräfte eines um die Herrschaft über die Menschen konkurrierenden Gottes abgewehrt werden müssten.

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