Das nächste Gegen-Memorandum: die »Fuldaer Erklärung«
Nach zwei Montagen, an denen Kardinal Joachim Meisner zu den Debatten um das Memorandum Stellung bezogen hatte, tritt in der dritten Woche nun das »Forum deutscher Katholiken« auf den Plan. Es hat, da gerade in Fulda versammelt, eine »Fuldaer Erklärung« veröffentlicht, die beim Kruzifix-Urteil des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte vom 18. März 2011 beginnt und beim erwarteten Papstbesuch im September endet. Das ist ein erstaunlich weiter Rahmen für eine Erklärung, die keine DIN-A4-Seite umfasst (gut 2000 Zeichen). Die Verbindung wird geschaffen durch, man ahnt es, den Dialogprozess, der jetzt beginnen soll.
Kruzifix und Kirchenreform
Es war aber offensichtlich nicht ganz einfach den Überstieg in die aktuelle Diskussion zu finden. In der Fuldaer Erklärung heißt es:
»Das Urteil des Europäischen Gerichtshofes verschafft uns eine Atempause. Denn wir müssen uns fragen, ob die Selbstsäkularisierung der Kirche nicht eine wesentliche Ursache der Säkularisierung dieser Welt ist.«
Ich habe einige Zeit über den begründenden Zusammenhang gegrübelt, der mit dem »Denn« ausgesagt wird. Inwiefern kann die jetzt verschaffte Atempause in der Frage begründet sein, ob die Säkularisierung (zumindest auch) wesentlich in der Selbstsäkularisierung der Kirche begründet ist? Ich kann nur eine Vermutung anstellen: Die Atempause entsteht im Kampf für christliche Symbole in der (säkularen) Gesellschaft; so kann man sich tieferliegenden Ursachen der Säkularisierung zuwenden, und dazu gehört die »Selbstsäkularisierung der Kirche« (eine erstaunliche Diagnose, auf die ich zurückkomme).
Vielleicht muss man aber gar nicht nach dem genauen Zusammenhang der beiden Sätze forschen, weil es nur darauf ankommt, einen Textbaustein der Memorandums-Kritik fallen zu lassen: »Selbstsäkularisierung«. Der Begriff wurde, wenn ich recht sehe, von Wolfgang Huber geprägt in seinem Buch: Kirche in der Zeitenwende, Gütersloh 1998. Er hat damit das Phänomen der »Ethisierung der Religion« bezeichnet, in dem die »moralischen Forderungen der Religion ... zum dominierenden Thema« wurden (ebd. 31), und hat dies als Folge der Verflechtung des Protestantismus mit der neuzeitlichen Moderne beschrieben. In den gegenwärtigen Diskussionen in der katholischen Kirche hat der Begriff aber keine analytische Kraft, sondern ist zur Kampfformel mutiert: Selbstsäkularisierung ist das, was man anderen Kreisen in der Kirche vorhalten kann. Da muss man nicht erläutern, wodurch ein solcher Prozess in Gang kommt oder verstärkt wird; es genügt, den Begriff fallen zu lassen, um eine »Anpassung an den Zeitgeist« anzuprangern.
Vage Formulierungen, utopische Erwartungen
Grundsätzlich erklärt die »Fuldaer Erklärung« nicht allzu viel, sondern bleibt in vagen Formulierungen und utopischen Erwartungen stecken:
»Eine Kirche, die sich in Christus erneuert, wird die Kraft zurückgewinnen, auch das gesellschaftliche und politische Leben im Geist Christi neu zu gestalten, und dies wäre auch im Interesse einer humanen Gesellschaft.«
Was eine Erneuerung in Christus in der Praxis bedeutet, ist nicht so eindeutig, wie es wünschenswert wäre, damit der Satz einen Aussagewert gewinnt. Wahrscheinlich meinen die Autoren, mit den zuvor genannten vier Punkten (s. dazu unten) umschrieben zu haben, was jene »Erneuerung in Christus« sei. Begründet haben sie diesen Zusammenhang damit nicht. Vor allem verstehe ich nicht, wie eine derart erneuerte Kirche die »Kraft zurückgewinnen (kann), auch das gesellschaftliche und politische Leben im Geist Christi neu zu gestalten« – wenn doch sonst vor der Lebenswirklichkeit moderner Gesellschaft dahingehend gewarnt wird, dass Kirche sich ihr nicht anpassen darf. Warum sollte eine solche »unkirchliche« oder gar »antikirchliche Gesellschaft bereit sein, sich gerade dann von der Kirche prägen lassen, wenn diese nur treu zu einem Auftrag steht, der sie von der Gesellschaft und ihren Werten abhebt?
Diese Erwartung könnte nur dann sinnvoll sein, wenn man davon ausginge, die säkulare Gesellschaft sei das Ergebnis einer (Selbst-)Säkularisierung der Kirche, so dass sie durch eine erneuerte Kirche ihre eigenen Irrwege erkennen könnte. Zwar stellt der eingangs zitierte Satz tatsächlich die Frage nach einem solchen Zusammenhang (»ob die Selbstsäkularisierung der Kirche nicht eine wesentliche Ursache der Säkularisierung dieser Welt ist«). Mir ist aber nicht bekannt, dass man als ernsthafte historische These vertreten könnte, die Kirche sei ein Motor der Säkularisierung gewesen. Es tun sich auch logische Schwierigkeiten auf: Wer von »Selbstsäkularisierung der Kirche« spricht, meint, dass sich Kirche an weltliche Gegebenheiten anpasst. Diese müssen also dem Prozess der Verweltlichung der Kirche vorausliegen und können nicht von einer Selbstverweltlichung der Kirche bewirkt sein. Auch in sprachlicher Hinsicht ist festzuhalten: Der Begriff »Selbstsäkularisierung« ist eine sekundäre Ableitung, setzt die Existenz dessen voraus, was durch die Voranstellung von »selbst« auf eigenen Antrieb zurückgeführt wird. Mehr als die Sehnsucht nach einem früheren gesellschaftlichen Zustand drückt sich nicht aus in der Erwartung, eine »in Christus« erneuerte Kirche werde gesellschaftliche Prägekraft haben.
Gefordert wird ein Dialogprozess, der »zu einem Umdenken und zur Rückkehr zur unverfälschten und ganzen Botschaft Jesu Christi und zur Lehre der Kirche führt.« Wieder lässt der Text Formeln fallen, die nicht inhaltlich geklärt werden, sondern nur der Kennzeichnung der eigenen Position dienen. Die Absetzung von »jene(n) Fragen, die seit Jahrzehnten beraten, geklärt und entschieden sind« bemüht sich nicht einmal zu benennen, welche Fragen das sind. Aus der Diskussion, die das Theologen-Memorandum ausgelöst hat, kann man erahnen, was vor allem gemeint sein dürfte: Infragestellung des Zölibats, Frauenpriestertum, Homosexualität. Müssen sich die »gläubigen und kirchenverbundenen Katholiken« davor scheuen, solche Dinge auch nur zu erwähnen, und nehmen deshalb Unklarheiten in ihren Texten in Kauf?
Ein weiteres Beispiel für fehlende inhaltliche Substanz bietet die folgende Aussage:
»Eine Kirche ..., die sich unkritisch der so genannten 'Lebenswirklichkeit' anpasst, unterwirft sich eben dieser 'Lebenswirklichkeit' als Norm, statt sie zu prüfen und ihr in Christus Heil und Heilung zu bringen; sie gibt sich damit selber auf und macht sich überflüssig.«
Dass eine unkritische Anpassung der Kirche an die »Lebenswirklichkeit« nicht in Frage kommen kann, ist unumstritten. Die Frage ist, wo diese unkritische Anpassung beginnt; wann eine abzulehnende Unterwerfung unter diese Wirklichkeit als Norm gegeben ist. Wer das gar nicht als Frage erkennt, hat wohl nicht verstanden, worum es in den jüngsten Debatten geht.
Forderungen mit Subtext
Man kann die besprochenen Formulierungen als Ausdruck einer gewissen Selbstbezogenheit deuten: die eigene Position ist die richtige, die wahre katholische – und deshalb nicht begründungs- oder erläuterungsbedürftig. Dass man mit solcher Deutung nicht ganz falsch liegen dürfte, zeigt der Forderungskatalog, der vier knappe Punkte benennt, darin aber einen äußerst kritischen Subtext transportiert. Im Dialogprozess müsse es um folgende Fragen gehen:
- die würdige Feier der Eucharistie nach der Ordnung der Kirche und die eucharistische Anbetung
- die Ausbildung der Priesteramtskandidaten, Religionslehrer, Pastoralassistenten und Gemeindereferenten gemäß der Lehre der Kirche
- die Neuordnung des schulischen Religionsunterrichtes
- die Wiederbelebung des Bußsakramentes
Da aber zu so demonstrativ kirchenverbundenen Katholiken eine scharfe Kritik der Amtsträger nicht gut passt, wird zum Abschluss kaum zufällig die Einheit mit den Bischöfen betont: »Wir deutschen Katholiken freuen uns, zusammen mit den Bischöfen, auf den Besuch des Heiligen Vaters in unserem Vaterland.« (Hervorhebung von mir) Diese Einheit wird aber mehr beschworen als bezeugt.
Kommentare
Vor diesem Hintergrund finde ich es äußerst alarmierend, wenn sich Bischöfe wie Meisner oder Müller hier feiern lassen bzw. die Plattform für ihre Stellungnahmen nutzen.
Meiner Meinung nach machen Sie sich damit schuldig am Evangelium und kommen in keiner Weise ihrem Auftrag als Bischof nach. Ich bin vollkommen entsetzt! Auf kath.net tummelt sich eine Brut von Reaktionären, die diese Bischöfe und andere geschaffen haben. Was kann man tun, um das aufzudecken und anzuprangern?????
kath.net ist eine Plattform der Konservativen - also prinzipiell o.k. - aber dann wird in den Kommentaren doch einseitig ge- und verurteilt, so, als gäbe es Mt 7,1-5 nicht. Gleichzeitig ist diese Stelle der Bergpredigt für mich selbst ein Aufruf, vorsichtig zu urteilen.
Unabhängig davon ist das hier ein guter Blog. Und ich hätte gerade für die obige Bibelstelle eine Frage: Einerseits wird verboten zu urteilen - andererseits sagt Jesus in den Evangelien oft genug lautstark seine Meinung (meist aus gutem Grund, wie ich finde). Hält er sich nicht an seine eigene Lehre? Was ist der heutige exegetische Befund? (Ich weiss, dass das jetzt ein Themenvorschlag über die Hintertür ist, aber diese Frage beschäftigt mich seit einiger Zeit.)
Und wenn wir in der Welt zum Himmel schreiende Ungerechtigkeiten sehen, sind wir wohl versplichtet, diese anzuprangern und in Liebe zu verändern.
Vielleicht ist es ja wirklich so, dass die Bergpredigt nicht von Jesus sondern von Matthäus ist ;-)
Aber ich weiß natürlich, wie problematisch es ist, kanonisierte Texte zu relativieren. Die Vielfalt und der Reichtum der Quellen hat schließlich auch Vorteile. Aber trotzdem, Matthäus macht mir oft Bauchschmerzen.
Ich meine auch, dass in der Kirche Platz ist für unterschiedliche Ausrichtungen, Einstellungen, Frömmigkeitsstile. Was mir etwas zu schaffen macht, ist die unnötige Ab- und Ausgrenzung, die sich auf solchen Foren wie den Kommentaren von kath.net zeigt. Da bestätigen sich die Kommentatoren oft gegenseitig in ihren Urteilen bzw. Aburteilungen, die all das treffen, was nicht der eigenen Position entspricht. Auch Bischöfe werden hier darüber belehrt, was katholisch ist, und vor allem, was es nicht mehr ist. Diese geistige Enge ist bedrückend; sie führt nicht in die Zukunft, sondern ins Ghetto. / Die thematische Anregung nehme ich gerne auf und gehe auf die Frage nach Mt 7,1-5 nach Gelegenheit ein.
@Volker Schnitzler
Die Frage nach dem Verhältnis des Matthäus-Evangeliums zum Gesetz ist umstritten. Es wird, allerdings, wenn ich recht sehe nur von wenigen, vertreten, dass Matthäus sich ausdrücklich gegen Paulus und seine Theologie wendet. Ich selbst bin da skeptisch. Matthäus und Paulus bearbeiten unterschiedliche Problemstellungen. Sie könnten sich aber wohl in einem Punkt verständigen: die Liebe als Erfüllung des Gesetzes (Mt 22,34-40; Röm 13,8-10). Grundsätzlich müssen wir sicher mit verschiedenen Strömungen im Urchristentum rechnen; Streit und Auseinandersetzung sind keine Phänomene, die erst in neuerer Zeit aufgetaucht wären.
Vielen Dank für die schnelle Antwort. Die unterschiedlichen Strömungen im Urchristentum treten in den verschiedenen biblischen Texten ja auch mehr oder weniger deutlich zutage. Denkt man nur einmal an das Apostelkonzil, das von Lukas anders dargestellt wird als von Paulus oder den Zwischenfall in Antiochien, wo deutlich wird, dass auch Petrus so seine Schwierigkeiten mit den neuen Verhältnissen im heidenchristlichen Bereich hat. Sollte uns dies aber nicht ermutigen, jeweils für die Bedeutung des Evangeliums in der aktuellen Zeit und Kultur zu ringen und zu streiten? Müsste nicht auch das Lehramt, dessen Autorität ich nicht in Zweifel ziehen möchte, ein Interesse daran haben, das "Wort Gottes" jeweils für die Menschen verständlich zu machen? Wem nutzt dieser Beton- und Mauer-Katholizismus, den man in so manchem Forum vorfindet?