Tote Leichen

Wer vom »runden Kreis« spricht, vom »alten Greis« oder einem »großen Riesen«, wird gewöhnlich nicht für einen Rhetorikpreis vorgeschlagen. Ein Substantiv mit einem Adjektiv-Attribut zu versehen, dessen Inhalt schon im Substantiv steckt, bringt eine unelegante Tautologie hervor. Ich erinnere mich noch an eine Vorlesung in meiner Studienzeit, in dem der Professor auf dieses Phänomen zu sprechen kam (wenn auch eher in logischer denn rhetorischer Hinsicht) und die Wendung  »runder Tisch« analysierte: Damit sie sinnvoll sei, müsse es auch andere Formen von Tischen geben. Man müsse sich also fragen: »Gibt es auch eckige Tische?« Die Szene mit dem in Ton und Gestus äußerste Gedankentiefe signalisierenden Gelehrten, der um die Möglichkeit einer sinnvollen Aussage über runde Tische rang, entbehrte insofern nicht einer gewissen Komik, als er dies direkt neben einem eckigen Tisch stehend unternahm.

Aber ich schweife ab. Nicht immer scheint die Tautologie so offen zutage zu liegen wie beim »alten Greis« (oder die Nicht-Tautologie beim »runden Tisch«). In einem Kreuzworträtsel, das die Süddeutsche Zeitung online anbietet, wurde am 25.4. nach einem italienischen Heiligen gefragt. Da es nun so viele Heilige gibt, hat man sich entschlossen, eine kleine Hilfestellung zu geben, und durch ein Kreuz darauf hingewiesen, dass der gesuchte Heilige bereits verstorben sei.

Offensichtlich waren die Autoren über die Grundzüge von Heiligsprechungsverfahren nicht informiert. Und sie kannten auch nicht - ich schweife erneut etwas ab - den etwas älteren Witz, in dem das ZK der KPdSU bei der Kirche anfragt, ob eine Heiligsprechung des Genossen Breschnew möglich sei. Die Antwort, eine Heiligsprechung setze den Tod des Betreffenden voraus, führt zur Rückmeldung des ZK, man könnte den Genossen ja für zum Schein für tot erklären. Darauf die Antwort: Dann können wir ihn nur scheinheiligsprechen.

Philosophen können künftig als Gegenbeispiel zum »runden Tisch« auf einen weiteren praxiserprobten Fall zurückgreifen.

Kommentare

Roland Breitenbach hat gesagt…
Lieber Gerd Häfner,
ich freue mich, dass Sie auch das Kreuzworträtsel in der Süddeutschen angehen.
Die Sache mit dem it. Heiligen ist mir auch aufgefallen.
Herzlich grüßt
Roland Breitenbach
Andreas Metge hat gesagt…
Ich erinnere mich sehr genau an die Vorlesung, an den dramatischen Ton "Gibt ... es ... einen ... eckigen ... Tisch ???". Ich meine, er stützte sich in diesem Augenblick darauf. Aber das kann Verklärung sein ...

Schön, wenn manche erkenntnistheoretische Grundfrage sich so amüsant von selbst beantwortet ...
Gerd Häfner hat gesagt…
Lieber Andreas,

schön, dass Du Dich auch noch an diese köstliche Szene aus unserer Studienzeit erinnerst. Ich glaube, sie hat uns als Perle durch unser weiteres Studium begleitet. Möglicherweise hat die Skurrilität durch die Erinnerung im Laufe der Zeit noch zugenommen, wer weiß. Aber amüsant ist die Erinnerung in jedem Fall.
Abaelard hat gesagt…
"Offensichtlich waren die Autoren über die Grundzüge von Heiligsprechungsverfahren nicht informiert."

Aber bitte, die Autoren des Kreuzworträtsels haben doch nur antizipatorisch gedacht.

Sie wussten selbstverständlich über den Tod als notwendige Voraussetzung für eine Heiligsprechung genauestens Bescheid.
Lediglich für die potentiellen Löser des +Worträtsels konnten sie kirchliches Expertenwissen dieser Art nicht voraussetzen :-)

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