Sonntagsevangelium (51)

32. Sonntag im Jahreskreis (B): Mk 12,38-44 (oder 12,41-44)

Endete das Evangelium vom letzten Sonntag mit dem Einverständnis zwischen Jesus und einem Schriftgelehrten (12,34), so bietet 12,38-40, im Ablauf des Markus-Evangeliums der übernächste Abschnitt, wieder das von Polemik bestimmte Bild. Matthäus fügt genau an dieser Stelle die Weherede gegen Schriftgelehrte und Pharisäer ein (Mt 23,1-39), Markus bietet nur ein sehr knappes Stück. Die Hörer – das sind nicht nur die Jünger, sondern auch die Volksscharen, die Jesus gern hören (12,37) – werden vor den Schriftgelehrten gewarnt (»Hütet euch ...«). Drei Vorwürfe werden vorgebracht.


Die Schriftgelehrten werden als ehrsüchtig vorgestellt, bezogen auf die Kleidung (»in langen Gewändern«), auf die öffentliche Anerkennung (»lassen sich grüßen auf den Marktplätzen«) und besondere Plätze bei Gottesdienst und Gastmählern. Wird hier noch eine menschliche Schwäche aufs Korn genommen, die man sich nicht zum Vorbild nehmen sollte, so ist der zweite Vorwurf schwerwiegend: »Sie fressen die Häuser der Witwen.« Auf welche Weise dies geschieht, interessiert den Text nicht. Das Signal aber ist deutlich: Die Schriftgelehrten nutzen die rechtliche und soziale Schwäche anderer zum eigenen Vorteil aus. Damit stellen sie sich auch gegen Gott, der in der alttestamentlich-jüdischen Tradition als Rechtshelfer der »Witwen und Waisen« gilt (z.B. Ex 22,21f Ps 146,8f). Daraus ergibt sich mit innerer Folgerichtigkeit, dass die Schriftgelehrten auch in Handlungen, die das Gottesverhältnis direkt betreffen, unzuverlässig sind. Ihre Gebetspraxis wird als heuchlerisch gebrandmarkt: Zum Schein verrichten sie lange Gebete.

Das gezeichnete Bild ist einseitig. Dass solche Charakterisierungen nicht allgemeingültige Beschreibungen damaliger Schriftgelehrter sein können, ergibt sich schon aus der deutlich polemischen Zuspitzung. Im Rahmen des Markus-Evangeliums kann auch der Schriftgelehrte aus Mk 12,28-34 daran erinnern. Wer einmal Bestimmungen darüber gelesen hat, welcher klerikale Rang zum Tragen welcher Kleidung berechtigt (s. z.B. hier zu päpstlichen Ehrentiteln), wird die kritisierte Schwäche keinesfalls allein jüdischen Schriftgelehrten zuschreiben.

Ist in den Worten gegen die Schriftgelehrten von Witwen als Opfer die Rede, so im anschließenden Abschnitt vom Opfer einer Witwe (12,41-44). Diese Szene ist auf  Gegensätzen aufgebaut. Viele Reiche kommen und werfen viel in den Opferkasten. Ihnen steht eine arme Witwe gegenüber, die wenig gibt – so scheint es jedenfalls. An diesem Anschein setzt Jesu Belehrung über die Bewertung der Mengenverhältnisse an. Sie richtet sich auffallend deutlich an die Jünger, die eigens herbeigerufen werden (12,43).

Der Evangelist klärt durch diese Konzentration auf die Jünger, dass eine Frage verhandelt wird, die für die christliche Gemeinde wichtig ist. Dabei muss man grundsätzlich an das Verhältnis von Armen und Reichen denken. Denn dass das Opfer der Witwe dem Tempel gilt, ist für Markus ohne Bedeutung: Er schreibt für Heidenchristen, wohl nach der Zerstörung des Tempels. So wird die Geschichte zum Lehrstück für die Achtung der Armen in der Gemeinde. Soll auch das Gottvertrauen der Frau als vorbildlich hingestellt werden? Sie gab alles (12,44), behielt von den zwei Münzen, die sie hatte, nicht eine zurück. Doch bleibt die Geschichte in diesem Punkt offen. Sie fragt nicht, warum die Frau so handelt; sie will nur ihre Gabe bewerten – im Vergleich zum vermeintlichen »Mehr« der Reichen. 

Kommentare

Gerhard Mentzel hat gesagt…
Auch dieser Text macht deutlich, dass es Markus nicht um die wörtliche Rede eines gegen jüdische Schriftgelehrten aufbegehrtenden charismatischen Rebellen gegangen sein kann, wie man sich das bisher auf buchstäbliche Weise vorstellte. Auch Prof. Häfner hat darauf verwiesen, dass die Polemik des Verfassers nicht allein die jüdische Schriftgelehrtheit im Blick haben kann.

Wenn wir den Text nicht aus dem biblischen Kontext nehmen wollen, dann war auch hier die "Frage nach dem Messias": dem wahren Wesen Jesus das Thema, das sich in den Worten gegen die Schriftgelehrten fortsetzt und beim Opfer der Witwe (einer Frau bzw. einem hervorbringendem Wesen ohne Mann oder schöpferische Bezeugung) bedacht werden muss.

Nein, mit einem besserwissenden Heilsprediger, der sich nicht nur jüdische Schriftgelehrtheit verurteilt, ihr jetzt vorwirft, sie hätten das Geld einer armen Witwen verschwendet, hat der Verfasser, der (lt. Neutestamentlern) u.a. eine Evangelien-Geschichte vom wahren Messias gegen die frohe Botschaft von dem als Messias verkündeten Augustus stellte, nichts am Hut.

Dank Amazons Empfehlungsliste lese ich bei Leonardo Boff über den "kosmischen Christus" in dem in Fortführung Teilhard de Chardins alles Bestand hätte. Auch ein Buch Schönborns, in dem Christus einen schöpferischen Grund hat, der über den Zufall hinausgeht, Ziel aller Natur sein soll (damit dem Gegenspieler Boffs bzw. Benedikt XVI., der die "schöpferische Vernunft" als Wesen des chr. Glaubens in ökologischer Welterkärung zu bedenken gab), habe ich den Einkaufskorb gelegt.

Die vielen weiter empfohlenen Bücher, die, wie bei Menke im biblischen/historischen Jesus den "Sohn Gottes" sehen, ein hoheitliches Wesen beschreiben, sind mir teils bekannt oder kann ich mir schenken.

Denn was soll alles Wandeln in langen Gewändern und sonntaglichen Reden vom Gottessohn? Wenn der reale schöpferische Grund Jesus in heutiger Welterkärung von den Gelehrten nicht bedacht wird, bleibt die arme Witwe ohne Mann, wird ihr Vermögen verschwendet.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Schönborn hat den Gegenspieler Boffs bzw. die in ökologischer Welterkärung als chr. Wesen zu bedenkende kreative=schöpferische Vernunft bestätig, auf die sich Benedikt XVI. ständig beruft, sollte es heißen. Denn alle reden in langen Gewändern von einem realen schöpferischen Wesen, ohne dies im hier und jetzt realisieren zu wollen. Denn nach bisheriger Lesweise darf ja nur ein junger Wandercharismatiker sein, dem das alles angehängt wurde.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Bede Griffiths "Die neue Wirklichkeit", wo auf mystische Weise die Annähnerung des chr. Glaubens an wissenschaftliche Welterklärung und östliche Vorstellungen gesucht wird, was Capra auf intellektuelle Weise versuchte, hab ich auch noch bestellt.

Doch wie gesagt: Alles wandeln in wissenschaftlicher Welt bzw. langen Gewändern bringt die arme Witwe nicht weiter, solange am Anfang nur ein wundertätiger Wanderprediger gewesen sein soll, der auf geheimnisvolle Weise eine Art Gott sein soll.

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