Erdbeben als apokalyptische Katastrophen?
Die Erdbeben in Haiti, Chile und vor allem jetzt in Japan provozieren offenbar apokalyptische Deutungen. Robert Spaemann hat in einem Interview mit »Christ und Welt« vorsichtig eine Verbindung zwischen sich häufenden Naturkatastrophen und biblischen Endzeitszenarien bejaht (13/2011, eine nicht ganz lesefreundliche Fassung kann man sich hier erblättern). Den Hinweis des Interviewpartners, dass im Matthäus-Evangelium die Rede sei von Hungersnöten und Erdbeben als Katastrophen vor dem Ende, ergänzt Spaemann: »Ja, und vom Rauschen des Meeres und Erschütterungen des Himmels«. Er trägt eine solche Deutung ausdrücklich nicht als zwingende Schlussfolgerung vor und kann sich auch andere Szenarien vorstellen, meint aber dennoch: »Wenn solche Ereignisse sich häufen, dann haben wir allen Anlass, sie als Zeichen zu nehmen.«
Ich nehme dieses Urteil zum Anlass, einige Überlegungen zum Sinn apokalyptischer Endzeitszenarien in der Bibel anzustellen.
Der Sinn apokalyptischer Visionen
Für das Verständnis apokalyptischer Aussagen ist grundlegend wichtig, dass die Geistesströmung, die wir als Apokalyptik bezeichnen, ein Krisenphänomen ist. Die Szenarien, die in Apokalypsen entworfen werden, sollen einer Anfechtung begegnen. Apokalyptische Visionen wollen nicht die Zukunft erforschen, sondern die Gegenwart bewältigen. Zukünftige Katastrophen werden entfaltet, weil von Geschichte und Gegenwart keine Lösung der Krise zu erwarten ist, nicht aber weil man sie für getreue Abbildung künftigen Geschehens gehalten hätte. Dies lässt sich recht klar aus dem 4. Buch Esra ersehen, einer jüdisch-apokalyptischen Schrift vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. Sie greift auf eine Vision aus dem Buch Daniel zurück, deutet diese aber ausdrücklich anders als es in der Vorlage geschieht. Dem Visionär sagt ein Deute-Engel:
Endzeitliche Katastrophen - geschichtlich und theologisch interpretiert
Warum aber gibt es keinen »sanften Übergang« zur Vollendung? Warum werden Katastrophen geschildert, durch die hindurch erst Erlösung geschieht? Ursprünglich dürften sich real erfahrene Katastrophen in diesen Szenarien niedergeschlagen haben. Die Apokalyptik kam in der jüdischen Religionsgeschichte zum Durchbruch, als es unter dem hellenistischen Herrscher Antiochus IV. in Israel zu einer Religionsverfolgung kam (167 v. Chr.). Ein Erlass des Königs hatte faktisch die Ausübung der jüdischen Religion verboten. Das Festhalten am Leben nach den religiösen Überlieferungen Israels stand unter Todesstrafe. Diese Situation extremer Bedrängnis schlägt sich in der Vorstellung von den endzeitlichen Katastrophen nieder: In ihnen kündigt sich das Kommen der Erlösung an. Sie sind die Wehen, die die Geburt der neuen Welt Gottes ankündigen: je größer die Not, desto näher die Rettung.
Allerdings beschränkt sich das Erscheinen solcher Szenarien in apokalyptischen Werken nicht auf die Zeiten, in denen eine Katastrophe die Lebenswelt von Autor und Adressaten geprägt hat. Deshalb lässt sich in ihnen auch ein grundsätzlicher theologischer Gedanke entdecken: das Wissen, »daß Erlösung niemals in irgendeinem kausalen Sinne eine Folge aus der vorangegangenen Geschichte sein kann« (Karlheinz Müller, in: Neues Bibellexikon, Band I, Sp. 192). Heil entsteht nicht aus der Vollendung und Vervollkommnung menschlicher Geschichte. In den verwendeten Bildern und Motiven ist ein theologisches Potential enthalten, das eine bleibende Bedeutung über ein reales Verständnis hinaus hat und sich nicht erschöpft in bizarren und skurrilen Geschehensabläufen.
Metaphorische Deutung apokalyptischer Texte
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich: Apokalyptischen Texten angemessen ist ein Interpretationsmodell, das die Katastrophenszenarien metaphorisch deutet und nicht als Voraussage realer Vorgänge auffasst. Versteht man die apokalyptischen Texte als Bilder, sagen sie letztlich nichts aus über das Ergehen der geschaffenen Welt; sie illustrieren vielmehr das richterliche Eingreifen Gottes (oder des Menschensohnes in göttlicher Macht) und die von ihm gewährte Heilsvollendung, beschreiben sie aber nicht.
Ein solches Verständnis legt sich auch nahe, wenn wir einen näheren Blick auf apokalyptische Texte des Neuen Testaments werfen. Es gibt dort sehr unterschiedliche Vorstellungen von der zukünftigen Vollendung. Auf der Ebene realer Vorgänge lassen sie sich nicht miteinander vereinbaren. Paulus entfaltet zwar endzeitliche Szenarien, erwähnt Katastrophen dabei aber überhaupt nicht (s. vor allem 1Thess 4,13-18; 1Kor 15,20-28.51-57). In den Evangelien lesen wir die Endzeitrede in Mk 13 (mit Parallelen in Mt 24f; Lk 21), die aber nicht als Zusammenfassung der Visionen gelten kann, die die Offenbarung des Johannes von der Endzeit bietet. Der 2. Petrusbrief spricht zwar wie Offb 21,1 vom »neuen Himmel« und der »neuen Erde« (2Petr 3,13); mehr verbindet die beiden Schriften in den Endzeitvorstellungen aber nicht. Wenn im 2. Petrusbrief die Rede vom Weltbrand ist (2Petr 3,7.10), ist das Augenmerk auf anderes gerichtet als in der Johannes-Offenbarung, die sich für das Ende des geschaffenen Kosmos nicht sonderlich interessiert. Und es sind auch andere Akzente gesetzt als in Mk 13,24-27, wo mit Zitaten aus den Büchern Jesaja und Daniel die Erschütterung der kosmischen Ordnung und das Kommen des Menschensohnes zu Gericht und Rettung angekündigt wird. Diese unterschiedlichen Aussagen lassen sich nicht addieren zu einem in sich stimmigen Geschehensablauf. Sie finden ihre gemeinsame Mitte nicht auf der Ebene von Vorgängen in der menschlichen Erfahrungswelt, sondern in einer theologischen Überzeugung: Gott wird durch Christus die menschliche Geschichte in Heil und Gericht vollenden.
Willkürliche Aktualisierungen
Liest man apokalyptische Texte dagegen als Vorhersage konkreter geschichtlicher Vorgänge, entsteht das Problem, dass solche Bezüge willkürlich bleiben müssen. Die Vielgestaltigkeit der Endzeitszenarien ermöglicht, sich die jeweils passende Passage herauszusuchen. Gibt es einen Tsunami, könnte man die »Bedrängnis der Völker bei brausendem Meer und Wasserwogen« ins Spiel bringen (Lk 21,25). Die Offenbarung des Johannes ließe sich für verschiedene Katastrophen als Bezugsgröße einsetzen: Inflationsschocks (Offb 6,6), verheerende Brände und Hagelschäden (Offb 8,7; 16,21), Trockenperiode und Hitzewellen (Offb 11,6; 16,8f), Fischsterben (Offb 8,9; 16,3), Epidemien (Offb 16,2.10f), Finanz- und Wirtschaftskrise (Offb 18,11-19).
Im Fall von Erdbeben, Kriegen und Hungersnöten ist die Auswahl größer, denn hier handelt es sich um typisch apokalyptische Motive. In der Endzeitrede Mk 13 sind alle drei im Zusammenhang genannt (Mk 13,7f, mit Parallelen bei Mt und Lk), aber ohne jede nähere Ausgestaltung. Die Offenbarung des Johannes spricht häufig von Erdbeben (Offb 6,12; 8,5; 11,13.19; 16,18), seltener von Hungersnöten (Offb 6,8; 18,8). Von Kriegen ist ebenfalls die Rede (Offb 6,4), meist allerdings nicht als Krieg der Völker untereinander, sondern als Krieg der bösen Mächte gegen die Heiligen (Offb 11,7; 12,17; 13,7) oder bezogen auf die endzeitliche Entscheidungsschlacht (Offb 16,14; 19,19; 20,8).
Dass die endzeitlichen Visionen das Geschehen meist nicht allzu genau beschreiben, erleichtert die unangemessene Suche nach Erfüllungen in der Gegenwart. Wenn es in Mk 13,8 zu den angekündigten Kriegen heißt, es werde sich Volk gegen Volk und Königreich gegen Königreich erheben, so ist das ja sehr unspezifisch ausgedrückt. Dennoch bleibt auch in der allgemeinen Formulierung gewöhnlich ein Rest, der auf zeitgeschichtliche Ereignisse nicht recht passt. Wir erfahren heute zwar von nicht wenigen kriegerischen Auseinandersetzungen, aber dass alle Völker der Erde daran beteiligt wären, kann man nicht sagen. Auch beschreibt die Aussage, Königreich werde sich gegen Königreich erheben, unter heutigen Bedingungen keine allgemeine Zerrüttung des Zusammenlebens der Völker.
Andererseits: Wenn die apokalyptischen Texte konkretere Aussagen treffen, wird es schwer, sie auf gegenwärtige Ereignisse zu beziehen. Ein Beispiel: Dass ein Drittel der Menschheit vernichtet würde durch Feuer, Rauch und Schwefel, ausgestoßen aus den Mäulern der Pferde eines apokalyptischen Heeres (Offb 9,18), werden die wenigsten als Vorhersage von Ereignissen deuten wollen, auf die wir uns jetzt wegen sich häufender Erdbeben vorbereiten müssten.
Das bedeutet: Eine Auslegung apokalyptischer Szenarien, die in ihnen die Vorhersage irdischer Katastrophen erkennt, so dass aus erfolgten Katastrophen auf die besondere endzeitliche Qualität der Gegenwart geschlossen werden könnte, muss notwendig inkonsequent bleiben. Sie kann immer nur auswahlweise auf apokalyptische Visionen zugreifen, ohne dass ein Kriterium der Auswahl angegeben werden könnte. Deshalb ist die oben beschriebene theologisch-metaphorische Deutung diesen Texten angemessener. Sie sind dann nicht zu verstehen als Voraussage künftiger Ereignisse, sondern als Texte, die in einer notvollen und bedrängten Gegenwart Vertrauen auf Gott stiften wollen: Er allein kann die Wende zu einem heilvollen Ende bewirken.
»Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu kennen ...«
Ein solcher Verzicht auf den Versuch, die eigene Zeit einem Geschichtsplan Gottes zuzuordnen, steht im Übrigen in Einklang mit dem Wort des Auferstandenen an die Jünger in Apg 1,7: »Es ist nicht eure Sache, Zeiten und Fristen zu kennen, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat.«
Literatur zum Thema:
Für ein breiteres Lesepublikum:
Ich nehme dieses Urteil zum Anlass, einige Überlegungen zum Sinn apokalyptischer Endzeitszenarien in der Bibel anzustellen.
Der Sinn apokalyptischer Visionen
Für das Verständnis apokalyptischer Aussagen ist grundlegend wichtig, dass die Geistesströmung, die wir als Apokalyptik bezeichnen, ein Krisenphänomen ist. Die Szenarien, die in Apokalypsen entworfen werden, sollen einer Anfechtung begegnen. Apokalyptische Visionen wollen nicht die Zukunft erforschen, sondern die Gegenwart bewältigen. Zukünftige Katastrophen werden entfaltet, weil von Geschichte und Gegenwart keine Lösung der Krise zu erwarten ist, nicht aber weil man sie für getreue Abbildung künftigen Geschehens gehalten hätte. Dies lässt sich recht klar aus dem 4. Buch Esra ersehen, einer jüdisch-apokalyptischen Schrift vom Ende des 1. Jahrhunderts n. Chr. Sie greift auf eine Vision aus dem Buch Daniel zurück, deutet diese aber ausdrücklich anders als es in der Vorlage geschieht. Dem Visionär sagt ein Deute-Engel:
»Der Adler, den du vom Meer aufsteigen sahst, das ist das vierte Reich, das in einem Gesicht deinem Bruder Daniel erschienen ist. Es wurde ihm aber nicht gedeutet, wie ich es dir jetzt deute oder (bereits) gedeutet habe« (4 Esra 12,11f).Die ältere apokalyptische Tradition wird also bewusst abgewandelt. Dann ist aber an der Vision nicht die Beschreibung der Zukunft entscheidend, sondern der im Buch Daniel enthaltene Grundgedanke: Gott wird auf dem Höhepunkt der Not für seine Frommen eingreifen und Rettung bringen. Dieses Vertrauen in Gott soll durch die apokalyptischen Szenarien gestärkt werden.
Endzeitliche Katastrophen - geschichtlich und theologisch interpretiert
Warum aber gibt es keinen »sanften Übergang« zur Vollendung? Warum werden Katastrophen geschildert, durch die hindurch erst Erlösung geschieht? Ursprünglich dürften sich real erfahrene Katastrophen in diesen Szenarien niedergeschlagen haben. Die Apokalyptik kam in der jüdischen Religionsgeschichte zum Durchbruch, als es unter dem hellenistischen Herrscher Antiochus IV. in Israel zu einer Religionsverfolgung kam (167 v. Chr.). Ein Erlass des Königs hatte faktisch die Ausübung der jüdischen Religion verboten. Das Festhalten am Leben nach den religiösen Überlieferungen Israels stand unter Todesstrafe. Diese Situation extremer Bedrängnis schlägt sich in der Vorstellung von den endzeitlichen Katastrophen nieder: In ihnen kündigt sich das Kommen der Erlösung an. Sie sind die Wehen, die die Geburt der neuen Welt Gottes ankündigen: je größer die Not, desto näher die Rettung.
Allerdings beschränkt sich das Erscheinen solcher Szenarien in apokalyptischen Werken nicht auf die Zeiten, in denen eine Katastrophe die Lebenswelt von Autor und Adressaten geprägt hat. Deshalb lässt sich in ihnen auch ein grundsätzlicher theologischer Gedanke entdecken: das Wissen, »daß Erlösung niemals in irgendeinem kausalen Sinne eine Folge aus der vorangegangenen Geschichte sein kann« (Karlheinz Müller, in: Neues Bibellexikon, Band I, Sp. 192). Heil entsteht nicht aus der Vollendung und Vervollkommnung menschlicher Geschichte. In den verwendeten Bildern und Motiven ist ein theologisches Potential enthalten, das eine bleibende Bedeutung über ein reales Verständnis hinaus hat und sich nicht erschöpft in bizarren und skurrilen Geschehensabläufen.
Metaphorische Deutung apokalyptischer Texte
Aus den bisherigen Überlegungen ergibt sich: Apokalyptischen Texten angemessen ist ein Interpretationsmodell, das die Katastrophenszenarien metaphorisch deutet und nicht als Voraussage realer Vorgänge auffasst. Versteht man die apokalyptischen Texte als Bilder, sagen sie letztlich nichts aus über das Ergehen der geschaffenen Welt; sie illustrieren vielmehr das richterliche Eingreifen Gottes (oder des Menschensohnes in göttlicher Macht) und die von ihm gewährte Heilsvollendung, beschreiben sie aber nicht.
Ein solches Verständnis legt sich auch nahe, wenn wir einen näheren Blick auf apokalyptische Texte des Neuen Testaments werfen. Es gibt dort sehr unterschiedliche Vorstellungen von der zukünftigen Vollendung. Auf der Ebene realer Vorgänge lassen sie sich nicht miteinander vereinbaren. Paulus entfaltet zwar endzeitliche Szenarien, erwähnt Katastrophen dabei aber überhaupt nicht (s. vor allem 1Thess 4,13-18; 1Kor 15,20-28.51-57). In den Evangelien lesen wir die Endzeitrede in Mk 13 (mit Parallelen in Mt 24f; Lk 21), die aber nicht als Zusammenfassung der Visionen gelten kann, die die Offenbarung des Johannes von der Endzeit bietet. Der 2. Petrusbrief spricht zwar wie Offb 21,1 vom »neuen Himmel« und der »neuen Erde« (2Petr 3,13); mehr verbindet die beiden Schriften in den Endzeitvorstellungen aber nicht. Wenn im 2. Petrusbrief die Rede vom Weltbrand ist (2Petr 3,7.10), ist das Augenmerk auf anderes gerichtet als in der Johannes-Offenbarung, die sich für das Ende des geschaffenen Kosmos nicht sonderlich interessiert. Und es sind auch andere Akzente gesetzt als in Mk 13,24-27, wo mit Zitaten aus den Büchern Jesaja und Daniel die Erschütterung der kosmischen Ordnung und das Kommen des Menschensohnes zu Gericht und Rettung angekündigt wird. Diese unterschiedlichen Aussagen lassen sich nicht addieren zu einem in sich stimmigen Geschehensablauf. Sie finden ihre gemeinsame Mitte nicht auf der Ebene von Vorgängen in der menschlichen Erfahrungswelt, sondern in einer theologischen Überzeugung: Gott wird durch Christus die menschliche Geschichte in Heil und Gericht vollenden.
Willkürliche Aktualisierungen
Liest man apokalyptische Texte dagegen als Vorhersage konkreter geschichtlicher Vorgänge, entsteht das Problem, dass solche Bezüge willkürlich bleiben müssen. Die Vielgestaltigkeit der Endzeitszenarien ermöglicht, sich die jeweils passende Passage herauszusuchen. Gibt es einen Tsunami, könnte man die »Bedrängnis der Völker bei brausendem Meer und Wasserwogen« ins Spiel bringen (Lk 21,25). Die Offenbarung des Johannes ließe sich für verschiedene Katastrophen als Bezugsgröße einsetzen: Inflationsschocks (Offb 6,6), verheerende Brände und Hagelschäden (Offb 8,7; 16,21), Trockenperiode und Hitzewellen (Offb 11,6; 16,8f), Fischsterben (Offb 8,9; 16,3), Epidemien (Offb 16,2.10f), Finanz- und Wirtschaftskrise (Offb 18,11-19).
Im Fall von Erdbeben, Kriegen und Hungersnöten ist die Auswahl größer, denn hier handelt es sich um typisch apokalyptische Motive. In der Endzeitrede Mk 13 sind alle drei im Zusammenhang genannt (Mk 13,7f, mit Parallelen bei Mt und Lk), aber ohne jede nähere Ausgestaltung. Die Offenbarung des Johannes spricht häufig von Erdbeben (Offb 6,12; 8,5; 11,13.19; 16,18), seltener von Hungersnöten (Offb 6,8; 18,8). Von Kriegen ist ebenfalls die Rede (Offb 6,4), meist allerdings nicht als Krieg der Völker untereinander, sondern als Krieg der bösen Mächte gegen die Heiligen (Offb 11,7; 12,17; 13,7) oder bezogen auf die endzeitliche Entscheidungsschlacht (Offb 16,14; 19,19; 20,8).
Dass die endzeitlichen Visionen das Geschehen meist nicht allzu genau beschreiben, erleichtert die unangemessene Suche nach Erfüllungen in der Gegenwart. Wenn es in Mk 13,8 zu den angekündigten Kriegen heißt, es werde sich Volk gegen Volk und Königreich gegen Königreich erheben, so ist das ja sehr unspezifisch ausgedrückt. Dennoch bleibt auch in der allgemeinen Formulierung gewöhnlich ein Rest, der auf zeitgeschichtliche Ereignisse nicht recht passt. Wir erfahren heute zwar von nicht wenigen kriegerischen Auseinandersetzungen, aber dass alle Völker der Erde daran beteiligt wären, kann man nicht sagen. Auch beschreibt die Aussage, Königreich werde sich gegen Königreich erheben, unter heutigen Bedingungen keine allgemeine Zerrüttung des Zusammenlebens der Völker.
Andererseits: Wenn die apokalyptischen Texte konkretere Aussagen treffen, wird es schwer, sie auf gegenwärtige Ereignisse zu beziehen. Ein Beispiel: Dass ein Drittel der Menschheit vernichtet würde durch Feuer, Rauch und Schwefel, ausgestoßen aus den Mäulern der Pferde eines apokalyptischen Heeres (Offb 9,18), werden die wenigsten als Vorhersage von Ereignissen deuten wollen, auf die wir uns jetzt wegen sich häufender Erdbeben vorbereiten müssten.
Das bedeutet: Eine Auslegung apokalyptischer Szenarien, die in ihnen die Vorhersage irdischer Katastrophen erkennt, so dass aus erfolgten Katastrophen auf die besondere endzeitliche Qualität der Gegenwart geschlossen werden könnte, muss notwendig inkonsequent bleiben. Sie kann immer nur auswahlweise auf apokalyptische Visionen zugreifen, ohne dass ein Kriterium der Auswahl angegeben werden könnte. Deshalb ist die oben beschriebene theologisch-metaphorische Deutung diesen Texten angemessener. Sie sind dann nicht zu verstehen als Voraussage künftiger Ereignisse, sondern als Texte, die in einer notvollen und bedrängten Gegenwart Vertrauen auf Gott stiften wollen: Er allein kann die Wende zu einem heilvollen Ende bewirken.
»Euch steht es nicht zu, Zeiten und Fristen zu kennen ...«
Ein solcher Verzicht auf den Versuch, die eigene Zeit einem Geschichtsplan Gottes zuzuordnen, steht im Übrigen in Einklang mit dem Wort des Auferstandenen an die Jünger in Apg 1,7: »Es ist nicht eure Sache, Zeiten und Fristen zu kennen, die der Vater in seiner Macht festgesetzt hat.«
Literatur zum Thema:
- Apokalyptik als Herausforderung neutestamentlicher Theologie, hg. von Michael Becker und Markus Öhler, Tübingen 2006.
- Ferdinand Hahn, Frühjüdische und urchristliche Apokalyptik. Eine Einführung, Neukirchen-Vluyn 1998.
- Karlheinz Müller, Studien zur frühjüdischen Apokalyptik, Stuttgart 1991.
Für ein breiteres Lesepublikum:
- Bernd U. Schipper/Georg Plasger (Hg.), Apokalyptik und kein Ende?, Göttingen 2007.
- Themenheft der Zeitschrift »Welt und Umwelt der Bibel« zur Offenbarung des Johannes, Heft 2/2009.
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