Der Zölibat - eine apostolische Tradition? (3)
Im dritten Teil werden die Aussagen des Paulus in 1Kor 7 untersucht, einer der ergiebigsten neutestamentlichen Textabschnitte zu unserem Thema. Anders als im ersten und zweiten Teil tritt die Auseinandersetzung mit dem Buch von Stefan Heid, Zölibat in der frühen Kirche (Paderborn 1997, 3. Auflage 2003), in den Hintergrund, weil sich zu der Behandlung von 1Kor 7 aus meiner Sicht keine grundsätzlichen Rückfragen ergeben ‑ bis auf einen Punkt, der zum Schluss zur Sprache kommen soll.
Paulus geht in 1 Kor 7 vor allem auf Fragen zu Sexualität, Ehe, Ehescheidung und Ehelosigkeit ein. In diesem Zusammenhang trifft er auch eine Aussage über seinen eigenen Stand: er ist unverheiratet. Wenn es in 7,7 heißt: »Ich wünschte, alle Menschen wäre wie auch ich«, so will er sich nicht in jeder Hinsicht als Vorbild präsentieren, sondern im Blick auf die verhandelten Fragen. So heißt es im nächsten Vers: »Den Unverheirateten und Witwen sage ich: Es ist gut, wenn sie so bleiben wie auch ich.« (7,8) Paulus selbst war also nicht verheiratet, und es gibt keinen Hinweis, dass dies erst für die Zeit seiner apostolischen Tätigkeit gelten würde, er also Witwer gewesen wäre oder sich von einer Ehefrau getrennt hätte. Er unternimmt jedenfalls nichts, um sich speziell Witwen oder Witwern als Vorbild zu präsentieren. Und er bespricht zwar das Thema der Trennung von Ehegatten (7,12-16), lässt aber einen biographischen Hintergrund auch nicht im Ansatz durchblicken. Von der Praxis der übrigen Apostel, die ihre Missionsreisen mit ihren Ehefrauen unternahmen (1Kor 9,5; s. dazu den 2. Teil), setzt sich Paulus also nicht in dem Sinne ab, dass er sich von seiner Frau getrennt oder diese zu Hause gelassen hätte. Wie in der Diskussion um den Familienstand Jesu (s. dazu den 1. Teil) ist auch hier das Schweigen zu einer Ehefrau in einen klärenden Kontext eingeordnet, der die Schlussfolgerung erlaubt: Es hat diese Frau nicht gegeben. Die Vergleichbarkeit mit Jesus endet allerdings beim Umfang der auswertbaren Aussagen über Ehe und Ehelosigkeit: Wir wissen wesentlich mehr darüber, wie Paulus in diesen Fragen gedacht hat.
Favorisierung der Ehelosigkeit und ihre Begründung
Ein erster Punkt: Paulus wertet die Ehelosigkeit höher als die Ehe. Dies ergibt sich nicht nur aus den bereits zitierten Stellen. Paulus schreibt auch im Zusammenhang des Themas »Jungfrauen«, es sei gut für den Menschen, »so zu sein« (1Kor 7,26). Wer keine Frau habe, solle keine suchen (7,27). Wer auf die Ehe und die Ausübung der Sexualität verzichten kann, handelt gut (7,38), ja sogar besser derjenige, der heiratet (7,39). Eine Witwe, die nicht mehr heiratet, ist glücklicher (7,40: im Griechischen ist hier das Wort verwendet, das die Seligpreisungen einleitet: makarios, selig). Paulus erteilt dabei Ratschläge, keine Weisungen, wie er an einer Stelle ausdrücklich sagt (7,6; s.a. 7,25.40). Allerdings kommen diese Ratschläge nicht von irgendwem, sondern von einem, der vom Herrn als zuverlässig erachtet wird (7,25), der den Geist Gottes hat (7,40). In seinem apostolischen Dienst war Paulus nicht von Selbstzweifeln geplagt.
Für seinen Rat gibt er auch eine Begründung. Zum einen verweist Paulus auf die »zusammengedrängte Zeit« (7,29). Paulus lebte in der Erwartung der baldigen Vollendung der Welt (s. 1Thess 4,15; 1Kor 15,51; auch Röm 13,11-14), und deshalb ist auch die Aussage, dass die Gestalt dieser Welt vergehe (1Kor 7,31), sicher so zu verstehen, dass dies in Kürze geschehe. Dafür spricht auch die Verwendung der Gegenwartsform. Es heißt nicht: die Gestalt dieser Welt wird vergehen. Angesichts dieser Zeitverhältnisse ist es angebracht, allem, was dieser vergehenden Welt zugehört, kein besonderes Gewicht beizumessen:
»Dies aber sage ich, Brüder: Die Zeit ist begrenzt. Künftig sollen die, die Frauen haben, sein, als hätten sie keine (30) und die Weinenden, als weinten sie nicht, und die sich freuen, als freuten sie sich nicht, und die kaufen, als behielten sie es nicht, (31) und die die Welt nutzen, als benutzten sie sie nicht; denn die Gestalt dieser Welt vergeht.«
Zu heiraten heißt, der Welt eine Bedeutung zu verleihen, die sie eigentlich nicht verdient. Wer heiratet, sorgt sich um das, was der Welt zugehört; darum, wie er der Frau oder sie dem Mann gefalle (7,33.34). Paulus greift also den Begriff der »Welt« (griechisch: kosmos) aus dem Zwischenstück über die »zusammengedrängte Zeit« (7,29-31) auf und wendet ihn auf die Frage nach Ehe und Ehelosigkeit an. Damit wird aber die Favorisierung der Ehelosigkeit nicht allein von der Nähe des Endes her begründet. Entscheidend ist die Gegenüberstellung von »Herr« und »Welt«, nicht von »Herr« und »nahes Ende der Welt«. In der Situation, in der Paulus den 1. Korintherbrief geschrieben hat, verstärkt die Naherwartung gewiss den Rat, ehelos zu bleiben; sie ist aber nicht dessen eigentlicher Sachgrund.
Paulus spricht vielmehr von der ungeteilten Sorge für die »Sache des Herrn« (7,32; wörtlich: »um das des Herrn«, also das, was mit dem Herrn zu tun hat). Dies wird der Sorge der Verheirateten gegenübergestellt, in der Formulierung sorgfältig aufeinander abgestimmt:
»Der Unverheiratete sorgt sich um das des Herrn, wie er dem Herrn gefalle« (7,32).
»Der Verheiratete sorgt sich um das der Welt, wie er der Frau gefalle« (7,33).
Dasselbe wird dann noch einmal, etwas variiert, für Frauen durchgespielt:
»Die unverheiratete Frau und die Jungfrau sorgt sich um das des Herrn, damit sie heilig sei im Leib und im Geist« (7,32).
»Die Verheiratete sorgt sich um das der Welt, wie sie dem Mann gefalle« (7,33).
Zwischen die beiden zitierten Passagen schiebt Paulus die Bemerkung zum Verheirateten ein: »Und er ist geteilt.« Verheiratete können sich der Sorge für die Sache des Herrn nicht vorbehaltlos widmen. Was ungeteilte Sorge für die Sache des Herrn bedeutet, führt Paulus nicht im Einzelnen aus. Auch die Formulierung, das Unverheiratetsein ziele auf die Heiligkeit »im Leib und im Geist«, bleibt ja unspezifisch. Als »Heilige« kann Paulus alle Glaubenden bezeichnen; der Bezug auf »Leib und Geist« soll wohl die ganzheitliche existentielle Ausrichtung auf den Willen des Herrn betonen. Man kann an das intensive Gebet denken, wenn man die Aussagen vom Beginn des Kapitels zu Rate zieht. Dort hatte Paulus eine zeitweilige sexuelle Abstinenz von Ehepartnern mit dem Gedanken des Freiseins für das Gebet verbunden (7,5; s.a. 1Tim 5,5 zu den Witwen). Da Paulus sich selbst als Vorbild einbringt, könnte auch die Evangeliumsverkündigung eine besondere Rolle spielen. Paulus hat wohl Unterstützung in seiner apostolischen Tätigkeit in der Form erwartet, dass sich Mitglieder aus den gegründeten Gemeinden als Mitarbeiter an seiner Missionsarbeit für eine bestimmte Zeit beteiligen (vgl. dazu W.-H. Ollrog, Paulus und seine Mitarbeiter. Untersuchungen zu Theorie und Praxis der paulinischen Mission, Neukirchen-Vluyn 1979, 95-107). Dass für solche Aufgaben familiär Ungebundene besonders in Frage kamen, liegt nahe. Allerdings weiß Paulus, dass es sich hier nicht um eine unabdingbare Voraussetzung handeln kann, zumal Missionsarbeit auch von Ehepaaren geleistet werden konnte (s. dazu den 2. Teil).
Geringschätzung der Sexualität?
Ins Thema eingestiegen war Paulus nicht mit der Frage von Ehe und Ehelosigkeit, sondern mit der Frage sexueller Askese. Dabei bezieht er sich auf einen Brief der Gemeinde an ihn:
»Was aber das betrifft, was ihr geschrieben habt, ist es gut für einen Menschen, eine Frau nicht zu berühren (=keinen Geschlechtsverkehr mit ihr haben)« (7,1).
Ist der Hauptsatz eine Aussage des Paulus oder führt er hier eine Position in der Gemeinde von Korinth an, die man in Anführungszeichen setzen müsste?
Was aber das betrifft, was ihr geschrieben habt: »Es ist gut für einen Menschen, eine Frau nicht zu berühren.«
Die Frage ist umstritten. Keine der beiden Möglichkeiten lässt sich ausschließen, sachlich hat die Frage für die Erhebung der Position des Paulus aber kein großes Gewicht. Er favorisiert, wie gesehen, die Ehelosigkeit und damit auch die sexuelle Enthaltsamkeit. Deshalb kann ihm die Aussage von 7,1 durchaus zugetraut werden – aber nur einschließlich der Erläuterung, die folgt. Paulus lässt den Satz ja nicht unkommentiert stehen, sondern relativiert ihn: Er gilt nicht grundsätzlich, denn derjenige, dem Enthaltsamkeit nicht gegeben ist, geriete in die Gefahr von »Unzucht aller Art« (7,2; Übersetzung Dieter Zeller), wenn er sich nach dieser Maxime richten würde. Deshalb rät Paulus Eheleuten von dauerhafter sexueller Enthaltsamkeit ab (7,2-5). Möglich ist also: Paulus greift aus dem Brief der Gemeinde das erste Thema auf (sexuelle Beziehungen), ohne es ausdrücklich zu zitieren (7,1a), und formuliert zunächst seine grundsätzliche Bevorzugung sexueller Askese (7,1b); er schränkt diese dann aber ein durch seine Warnung vor »verstiegenen Experimenten« (Hans-Josef Klauck, 7,2-5). Die Frage, ob Paulus in 7,1 eine Parole aus dem Brief zitiert, hat eher Bedeutung für die Rekonstruktion der Verhältnisse in der Gemeinde als für die Position des Paulus. Unsachgemäß wäre allein, wenn man diese Position aus 7,1 isoliert erheben wollte.
Paulus weiß also, dass die Fähigkeit zu sexueller Enthaltsamkeit nicht allen gegeben ist. Dies relativiert auch seinen Wunsch, dass alle seine Lebensform der Ehelosigkeit wählen:
»Aber jeder hat seine eigene Gnadengabe von Gott; der eine so, der andere so.« (7,7).
Zwar erscheint die Enthaltsamkeit nicht in den Listen von Gnadengaben (1Kor 12; Röm 12); dennoch ist sie im Rahmen des Gedankengangs in 1Kor 7,7 am besten als eine besondere Gabe zu verstehen. Die Formulierung »der eine so, der andere so« muss man nicht dahingehend pressen, dass Paulus ein besonderes Charisma für die Ausübung der Sexualität in der Ehe voraussetze. Wahrscheinlich meint Paulus: Jeder hat eine Gnadengabe erhalten; manchen ist die Fähigkeit zu sexueller Enthaltsamkeit gegeben, anderen nicht – sie haben dafür eine andere Gabe. Mit dem Bezug auf ein Charisma ist allerdings mitgegeben, dass Paulus nicht von der Enthaltsamkeit als einer heroischen Leistung ausgeht. Zwar kann er gewissermaßen zur Selbstprüfung auffordern und dabei den möglichen Verzicht auf die Ehe mit der »Vollmacht über den eigenen Willen« in Verbindung bringen (7,37). Aber er weiß doch, dass Enthaltsamkeit nicht einfach in der Verfügung des Menschen steht. Diejenigen, denen sie nicht gegeben ist, sollen heiraten, damit sie nicht »(vor Begierde) brennen« (7,9). Eheleuten rät er, nur in gegenseitiger Übereinstimmung und für eine bestimmte Zeit sexuell enthaltsam zu leben (7,5f).
Somit zeigt sich: Zwar favorisiert Paulus die ehelose Lebensweise, insofern sie einen ungeteilten Dienst für den Herrn ermöglicht; dies geht aber nicht einher mit einer negativen Sicht der Sexualität. Er schätzt deren Macht realistisch ein und warnt geradezu davor, sie zu unterschätzen. So hält er nach seinem Votum für das Ungeteiltsein eindeutig fest, dass die Heirat keine Sünde ist (7,36) – möglicherweise gegen sexualfeindliche Tendenzen in der korinthischen Gemeinde. Auch wenn derjenige besser handelt, der nicht heiratet, so handelt doch auch der, der heiratet, gut (7,38).
In all diesen hier besprochenen Fragen sehe ich, wie eingangs erwähnt, keine entscheidenden Differenzen zur Besprechung der Passage in dem genanntem Buch Stefan Heids. Nur eine Bemerkung greife ich auf, die auf den Zusammenhang von Ehelosigkeit und Amt zielt. Zu Recht stellt Heid fest:
»Er (=Paulus) spricht nicht ausdrücklich von der Geschlechtsaskese der Apostel, schon gar nicht von der Enthaltsamkeit irgendwelcher Diakone, Priester oder Bischöfe.« (Zölibat 30)
Dann aber fährt er fort:
»Und doch handelt es sich um einen Text, der aufgrund seiner Autorität erheblichen Einfluß auch auf die Lebensweise der Kleriker haben sollte, wie bereits die Pastoralbriefe erkennen lassen.« (Hervorhebung von mir)
Zweifellos kann man überlegen, inwiefern die Ausführungen des Paulus in 1Kor 7 für die Lebensweise von Klerikern wichtig sind. Dies lässt sich aber nicht aus den Pastoralbriefen (1./2. Timotheusbrief, Titusbrief) ableiten. Damit wird sich der vierte (und letzte) Teil beschäftigen.
Kommentare zum 1. Korintherbrief:
Von den für ein größeres Lesepublikum gedachten Kommentaren sind besonders zu empfehlen:
Exegetische Vorkenntnisse setzen voraus:
Kommentare zum 1. Korintherbrief:
Von den für ein größeres Lesepublikum gedachten Kommentaren sind besonders zu empfehlen:
- Hans-Josef Klauck, 1. Korintherbrief, Würzburg 1984.
- Jacob Kremer, Der Erste Brief an die Korinther, Regensburg 1997.
- Friedrich Lang, Die Briefe an die Korinther, Göttingen 1986.
Exegetische Vorkenntnisse setzen voraus:
- Andreas Lindemann, Der erste Korintherbrief, Tübingen 2000.
- Wolfgang Schrage, Der erste Brief an die Korinther, 4 Bände, Düsseldorf/ Neukirchen-Vluyn 1991-2001.
- Dieter Zeller, Der erste Brief an die Korinther, Göttingen 2010.
Kommentare
Sie schreiben: "Muss nicht darauf hingewiesen werden, dass Paulus trotz dieser Naherwartung in Bezug auf die sexuelle Enthaltsamkeit und die Ehelosigkeit sehr besonnen und abwägend urteilt? ... und trotz der Naherwartung fordert Paulus eben nicht die Ehelosigkeit oder sexuelle Abstinenz." Das ist vollkommen richtig. Darauf zielte im obigen Beitrag der Abschnitt, der mit "Geringschätzung der Sexualität?" überschrieben ist. DIe Frage ist zu verneinen: Paulus sieht, trotz seiner Vorliebe für die ehelose Lebensweise, Sexualität nicht negativ. Eine Forderung sexueller Abstinenz wäre gegen den Duktus seiner Ausführungen in 1Kor 7.