Ein Antwortversuch: Hinweise zu Mt 7,1-5
In den Kommentarspalten ist neulich im Zusammenhang der Debatte um verschiedene Lager in der Kirche die Frage nach der Auslegung von Mt 7,1-5 gestellt worden. Der Leser Stefan Kraft hat dazu geschrieben:
Die Frage im Leser-Kommentar war von den Debatten ausgegangen, die das Theologen-Memorandum ausgelöst hat. Findet hier gegenseitiges Verurteilen statt? Die matthäische Fassung der Weisung Jesu ist so gestaltet, dass wir diese Frage immer nur an uns selber richten können. Das Wort in Mt 7,1 eignet sich nicht zur Waffe gegen andere, denen man vorhalten könnte: »Du musst das Verbot des Verurteilens bedenken!« Die Fortsetzung im Wort vom Splitter im Auge des andern und vom Balken im eigenen Auge kehrt die Richtung um: »Ich muss das Verbot des Verurteilens bedenken!«. In der Diskussion um den rechten Weg der Kirche in die Zukunft kann unsere Stelle also nicht zum Argument werden.
Kommentare zum Matthäus-Evangelium:
Für ein größeres Lesepublikum gedacht:
Hubert, Frankemölle, Das Matthäusevangelium. Neu übersetzt und kommentiert, Stuttgart 2010.
Peter Fiedler, Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2006.
Ulrich Luck, Das Evangelium nach Matthäus, Zürich 1993.
Rudolf Schnackenburg, Matthäusevangelium, 2 Bde., Würzburg 1985/87.
Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium, 2 Bde., Freiburg 1986/88.
»Einerseits wird verboten zu urteilen - andererseits sagt Jesus in den Evangelien oft genug lautstark seine Meinung (meist aus gutem Grund, wie ich finde). Hält er sich nicht an seine eigene Lehre? Was ist der heutige exegetische Befund?«
(1) Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet! (2) Denn wie ihr richtet, so werdet ihr gerichtet werden, und nach dem Maß, mit dem ihr messt und zuteilt, wird euch zugeteilt werden. (3) Warum siehst du den Splitter im Auge deines Bruders, aber den Balken in deinem Auge bemerkst du nicht? (4) Wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Lass mich den Splitter aus deinem Auge herausziehen! - und dabei steckt in deinem Auge ein Balken? (5) Du Heuchler! Zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, dann kannst du versuchen, den Splitter aus dem Auge deines Bruders herauszuziehen. (Parallele in Lk 6,37f.41f)
Ausgangsfrage: zum Verständnis von Mt 7,1-5
Ein erstes Problem besteht in der angemessenen Übersetzung des griechischen Verbs krinein, das die Aussage von Mt 7,1 trägt. Es hat ein weites Bedeutungsspektrum:
1. »unterscheiden, auswählen« / 2. »urteilen, halten für« / 3. »sich entscheiden für, beschließen« / 4. »Recht verschaffen« / 5. »richten, verurteilen« (im Blick auf ein menschliches oder das göttliche Gericht) / 6. »Urteil fällen, aburteilen, verdammen« (im zwischenmenschlichen Verhalten) (Angaben nach Bauer-Aland, Wörterbuch zum Neuen Testament, Berlin, 6. Aufl. 1988).
Für Mt 7,1 kommen nur die letzten beiden Bedeutungen in Frage. Der Finalsatz »... damit ihr nicht gerichtet werdet« weist auf das göttliche Gericht. Es begegnet hier die typisch biblische Sprachform des so genannten theologischen Passivs: Gott wird als Urheber einer Handlung nicht ausdrücklich genannt, die grammatische Form des Passivs dient der zurückhaltenden Beschreibung einer Gott zugewiesenen Aktion (so auch in den Seligpreisungen, z.B.: Selig die Trauernden, denn sie werden getröstet werden – gemeint ist: Gott wird sie trösten). Schließen wir auch 7,2 in die Betrachtung ein, bestätigt sich dieses Verständnis. Denn hier ist von einem künftigen Gerichtetwerden die Rede. Dabei kann nur das göttliche Gericht gemeint sein. Da in beiden Vershälften von 7,1 dasselbe Verb verwendet wird, ist es angemessen, von einer sachlichen Entsprechung auszugehen. Ist der zweite Halbvers auf das (göttliche) Gericht ausgerichtet, kann es im Vordersatz nicht um ein Urteilen im Sinne von Meinungsbildung oder Entscheidung gehen. Abgewiesen wird nicht das Beurteilen, sondern das Verurteilen des anderen.
Der folgende Vers will kaum etwas zurücknehmen von dieser Warnung vor dem Verurteilen. »Mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird euch zugemessen werden.« Man könnte vielleicht geneigt sein, dies im Sinne der Abschwächung zu verstehen: Man müsste nur darauf achten, an andere keine strengeren Maßstäbe anzulegen als an sich selbst. Die Stoßrichtung des Spruches ist aber eine andere. Er will nicht zur Perfektion ermuntern (etwa: seid nur vollkommen, dann könnt ihr andere gefahrlos verurteilen), sondern in erster Linie darauf hinweisen, dass unser Verhältnis zum Nächsten von Bedeutung ist für das endgerichtliche Urteil Gottes über uns. Das Bildwort vom Balken und Splitter bestärkt diese Interpretation. Es formuliert den Gedanken, dass wir für die kleinen Schwächen der anderen viel sensibler sind als für die eigenen groben Fehler – mit der Folgerung, dass man sich zuerst um seine eigenen Fehler kümmern sollte, ehe man sich mit den Schwächen der anderen befasst. In diesem Zusammenhang kann man auch die zitierte Aussage aus 7,2 nur als Warnung interpretieren. Es mag befremden, dass die Ablehnung des Verurteilens nicht aus dem Liebesgebot begründet wird, sondern aus der Warnung vor dem Gericht Gottes. Aus dem Text ist dieser Gedanke aber nicht herauszuhalten (vgl. auch Ulrich Luz, Matthäus I [5. Aufl. 2002] 492).
Folgefrage: Inkonsequenz Jesu?
Dass Jesus »lautstark seine Meinung« sagt, muss also nicht als Widerspruch zu dieser Weisung aufgefasst werden. Aber tut er nicht selten doch mehr und verurteilt andere: Pharisäer und Schriftgelehrte (Mt 15,12-14; 22,18; Kapitel 23), Sadduzäer und Pharisäer (Mt 16,1-4), die Hörer seiner Gleichnisse (13,10-15), Hohepriester und Pharisäer (21,43)? Hält sich Jesus nicht an seine eigenen Worte? Verlangt er von anderen mehr als von sich selbst? Zur Beantwortung dieser Fragen ist der unterschiedliche Sachzusammenhang zu bedenken, in dem die jeweiligen Aussagen stehen. Die harten Worte Jesu ergehen im Rahmen der Auseinandersetzung um die rechte Auslegung des Gotteswillens. Auch wenn dabei das Mittel der Polemik eingesetzt wird, so soll damit nicht die Person getroffen werden, sondern die Position, die von ihr vertreten wird. So ist das Gegenüber Jesu in diesen Fällen immer eine Mehrzahl, er verurteilt nicht einzelne Personen, sondern eine Gruppe und den von ihr erhobenen Anspruch.
Man kann sich den Unterschied vielleicht noch deutlicher klar machen, wenn man auf die Ebene der Evangelisten wechselt (dabei setze ich die heute übliche Sicht voraus, dass die Evangelien nicht von Augenzeugen geschrieben sind und aus der Zeit nach 70 stammen). Bleiben wir bei Matthäus: Wenn er vom Streit zwischen Jesus und den Pharisäern erzählt, dann hat er dabei auch die Auseinandersetzungen im Blick, in denen er und seine Gemeinde stehen. Die im Evangelium auftretenden Pharisäer sind nicht als Individuen interessant (sie haben ja auch kein individuelles Profil), sondern als Konkurrenzgruppe. Wenn sich Jesus mit ihnen auseinandersetzt, dann spiegelt das zum einen sicher Konflikte im Auftreten des geschichtlichen Jesus; zum andern gibt es aber auch ein aktuelles Interesse des Evangelisten. Der Streit mit den Pharisäern ist im Matthäus-Evangelium gerade deshalb so ausgeprägt, weil Matthäus selbst mit den Pharisäern seiner Zeit im Streit liegt. Wenn er nun erzählt, dass Jesus mit den Pharisäern scharf ins Gericht ging, dann ist ihm dabei die Kritik an den pharisäischen Positionen, an der Schriftauslegung der Pharisäer wichtig. Ein Verurteilen auf persönlicher Ebene hat in diesem Zusammenhang keinen Ort; Jesus konnte ja nicht mit den Pharisäern zur Zeit des Evangelisten streiten.
Kein ethisches System
Trotz dieser Klärung kann man fragen: Sollten diese unterschiedlichen Kontexte nicht in der Überlieferung vom Wirken Jesu selbst ausdrücklich gemacht werden, damit keine Missverständnisse aufkommen können? Angesichts der Gestalt der Jesusüberlieferung wäre dies eindeutig zu viel verlangt: Die Weisungen Jesu bilden kein ethisches System, in dem alle Aussagen in ein spannungsfreies Ganzes integriert würden. Einzelne Weisungen können auf einen bestimmten Gedanken zugespitzt sein und erheben dabei nicht den Anspruch, das ganze angeschnittene Themenfeld umfassend und ausgewogen zu behandeln. Bleiben wir bei Beispielen aus der Jesusgeschichte des Matthäus: Die Aufforderung, das Gebet nur im stillen Kämmerlein zu verrichten (Mt 6,5f), richtet sich gegen eine Zurschaustellung von Frömmigkeit, bedenkt aber nicht die Frage eines gemeinschaftlichen Gottesdienstes. Jesus kann in starken Bildern zum Vertrauen auf die Fürsorge Gottes aufrufen (Mt 6,25-34; 10,29-31), ohne dass negative Erfahrungen bis hin zum Martyrium deshalb ausgeblendet würden (z.B. 10,17-22). Wie beides zusammengeht, wird nicht zum Thema. In Mt 23,16-22 kritisiert Jesus die pharisäischen Einzelbestimmungen zum Schwören; dabei spielt keine Rolle, dass in 5,33-37 der Schwur ganz grundsätzlich abgelehnt wurde.
Ich fasse zusammen: In Mt 7,1-5 bezieht Jesus Stellung gegen das gegenseitige Verurteilen, nicht dagegen, sein Urteil in einer bestimmten Sache (auch entschieden) zu vertreten. Dass die Grenze zwischen beidem in der Jesusüberlieferung nicht zum Thema wird, muss nicht überraschen, sondern entspricht deren Charakter: sie bietet einzelne, situative Weisungen, kein durchreflektiertes ethisches System. Dies wird im Übrigen auch an der Frage deutlich, die in der Auslegungsgeschichte von Mt 7,1 bestimmend war: die Frage nach der Reichweite des Verbotes zu richten. Ist damit jegliches Richten, auch das im Rahmen der Rechtsprechung, ausgeschlossen? Das ist ein Fragehorizont, den das Jesuswort offensichtlich gar nicht im Blick hat (zu den verschiedenen Antworten vgl. Ulrich Luz, ebd. 489f).
Und heute?
Und heute?
Die Frage im Leser-Kommentar war von den Debatten ausgegangen, die das Theologen-Memorandum ausgelöst hat. Findet hier gegenseitiges Verurteilen statt? Die matthäische Fassung der Weisung Jesu ist so gestaltet, dass wir diese Frage immer nur an uns selber richten können. Das Wort in Mt 7,1 eignet sich nicht zur Waffe gegen andere, denen man vorhalten könnte: »Du musst das Verbot des Verurteilens bedenken!« Die Fortsetzung im Wort vom Splitter im Auge des andern und vom Balken im eigenen Auge kehrt die Richtung um: »Ich muss das Verbot des Verurteilens bedenken!«. In der Diskussion um den rechten Weg der Kirche in die Zukunft kann unsere Stelle also nicht zum Argument werden.
Kommentare zum Matthäus-Evangelium:
Für ein größeres Lesepublikum gedacht:
Hubert, Frankemölle, Das Matthäusevangelium. Neu übersetzt und kommentiert, Stuttgart 2010.
Peter Fiedler, Das Matthäusevangelium, Stuttgart 2006.
Ulrich Luck, Das Evangelium nach Matthäus, Zürich 1993.
Rudolf Schnackenburg, Matthäusevangelium, 2 Bde., Würzburg 1985/87.
Joachim Gnilka, Das Matthäusevangelium, 2 Bde., Freiburg 1986/88.
Kommentare
Mir ging es um den Hinweis, dass sich aus der Jesusüberlieferung kein ethisches System ableiten lässt, in dem die verschiedenen Aussagen alle aufeinander abgestimmt oder aus einem Prinzip entwickelt wären. Auch fehlt die theoretische Besinnung, die für eine Ethik (im Unterschied zum Ethos) kennzeichnend ist.
Gewiss lassen sich aus der Jesusüberlieferung Handlungsmaximen ableiten, und wir finden gerade im Matthäus-Evangelium den Versuch, den Anspruch an das Handeln in prägnanten Sätzen zu bündeln (7,12: goldene Regel; 22,37-40 (par Mk 12,28-31): Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe). Es ist allerdings nicht zu erkennen, dass die konkreten Weisungen Jesu aus solchen Grundsätzen entwickelt und aufeinander abgestimmt würden. Das heißt freilich nicht, dass die Weisungen nicht ernst gemeint seien. Sie zielen natürlich auf Verwirklichung im Handeln derer, die Jesus nachfolgen - wiederum besonders im MtEv betont: der Abschluss der Bergpredigt schärft genau dies ein (7,13-27).
Das Phänomen des Judenchristentums ist äußerst vielgestaltig. Zunächst muss man bedenken, dass das Judenchristentum am Ursprung des Christentums steht. Es waren Judenchristen, die in der Verkündigung des Evangeliums den Schritt über Israel hinaus taten. Es waren Judenchristen, die dagegen Einspruch erhoben (Gal 2,4); es waren Judenchristen, die der Heidenmission zustimmten, aber keine Abstriche in der Toratreue seitens der Judenchristen duldeten (wie der Herrenbruder Jakobus: Gal 2,6-9.11-13). Das Problem mancher Judenchristen mit dem paulinischen Evangelium ist durchaus verständlich: Es ging dabei um die Frage, durch welche Handlungen und Einstellungen die Verbindung zur eigenen religiösen Tradition zerbricht. Sie wurde unterschiedlich beantwortet (wie wir das auch in unseren gegenwärtigen Debatten erleben). Und die Position des Paulus konnte sich nicht einfach auf das Beispiel Jesu berufen. Dass Petrus und Barnabas im antiochenischen Konflikt (Gal 2,11-14) ihr Verhalten geändert haben, zeigt: die Leute des Jakobus hatten keine schlechten Argumente.
Es ist gewiss so, dass manche Uneinheitlichkeit in der Jesustradition durch unterschiedliche Positionen der Evangelisten bedingt ist. Ich habe die Beispiele bewusst aus einem einzigen Evangelium entnommen, um zu zeigen, dass die Weisungen Jesu nicht in ein ethisches System eingepasst wurden. Natürlich kann man darüber diskutieren, was von den Beispielen auf den historischen Jesus zurückzuführen ist. Ich wollte auch nicht auf Widersprüche in den ethischen Weisungen Jesu abheben. In erster Linie ging es mir um den Hinweis: Man darf von der Jesusüberlieferung nicht erwarten, dass unterschiedliche Nuancierungen, Zielrichtungen und sachliche Zusammenhänge direkt zum Thema werden.
Das Problem, das ich an dieser Stelle sehe, ist, dass Matthäus in Perikopen wie z.B. Mt 5, 17-19 die Pharisäer in ihrer Gesetzestreue ja noch zu überbieten scheint. Das zweimalige "Reich Gottes" in V19 verweist auf die Situation in den christlichen Gemeinden zur Zeit des Matthäus, hier drängt sich die Frage nach dem rechten Verhältnis zum Gesetz der Tora auf. Und hier stellt Matthäus Gestzestreue eindeutig über einen "flexibleren" Umgang mit dem Gesetz. Das ist voll auf Linie der Pharisäer und meiner Meinung nach diametral zu Paulus, wenn man an Jesu Kritik am Ehescheidungsgestz, der Relativierung des Sabbatgebots und der Reinheitsvorschriften denkt, auch gegen dessen Standpunkt.
Letztlich möchte ich mich dafür bedanken, dass Sie sich auf diese Auseiandandersetzung einlassen!
Im Übrigen ist es schön, sich über das Verständnis biblischer Aussagen auszutauschen und im besten Sinne zu streiten.
Und damit möchte ich ihn nicht aus dem Judentum herausnehmen. Ich denke auch, dass er den jüdischen Glauben zurück auf den Kern bringt, die Zielsetzung des gesamten Gesetzes betont. Natürlich ist Jesus Jude und er richtet seine Botschaft an das gesamte Volk Israels (die Zwölf).
Ich sehe in einer derart "harmonisierten" Auslegung nur die Gefahr, das etwas von seiner radikalen Liebesbotschaft verloren geht. Und das aus aktuellem Anlass. Wenn ich die Diskussion um das Theologen-Memorandum beobachte, dann fällt doch auf, dass wir im Grunde einen ähnlichen Streit wie im Galaterbrief führen. Die eine Seite betont die Freiheitsbotschaft, alle sind einer in Christus, die anderen betonen das "Gesetz" Gotttes, den Gehorsam, die Hierarchie (Meisner, Müller etc.).
Ohne Paulus und seine Theologie wäre das Christentum sicherlich eine jüdische Sekte geblieben, wären wir heute hier in Europa keine Christen. Er bringt das Neue der christlichen Botschaft nochmals auf den Punkt. Wenn Kirche heute in einer Krise steckt, dann sehe ich einen Grund dafür in einem Zurückfallen hinter die Freiheitsbotschaft des Evangeliums. "Konservative" Christen sprechen ohne Bedenken von Gesetz und Willen Gottes, wenn sie Homosexualität verurteilen. Gott verbietet dann ausdrücklich die Frauenordination. Er gibt eindeutig vor, dass ein Priester zölibatär zu leben hat. Nur: Wo in der Bibel steht das so explizit? Ich sehe in den paulinischen Gemeinden eher das Gegenteil. Hier haben wir Frauen in Funktionsstellen, ebenso wie Sklaven und Heiden.
Ich kann sehr gut verstehen, wenn Paulus im Galaterbrief so radikal reagiert, wenn er mit der Forderung nach Beschneidung und Gesetzestreue konfrontiert wird. Hier ist das Evangelium in Gefahr!
Und irgendwie findet man die Verse, die man Pauluis entgegenhalten kann, und das passiert in der aktuellen Diskussion immer wieder, eben im Matthäusevangelium.
Was die gegenwärtigen Debatten betrifft, so wäre ich vorsichtig mit einer einfachen Zuweisung der Positionen an verschiedene biblische Autoren. Weder lässt sich Matthäus für eine »gesetzliche« Haltung (die doch wohl eher ein Festhalten an einer bestimmten Gestalt der kirchlichen Tradition ist) vereinnahmen, noch können sich diejenigen, die auf die Freiheitsbotschaft des Evangeliums abheben, sich einfach auf Paulus berufen, um für ihre Sicht Recht zu bekommen. Wenn Paulus von der Freiheit vom Gesetz spricht, dann hat er konkret die jüdische Tora vor Augen, deren Befolgung nicht zur Bedingung der Erlösung gemacht werden darf. Es geht nicht um »Gesetzlichkeit« in einem grundsätzlichen Sinn.
Ich meine: Welche Konsequenzen heute aus der Freiheitsbotschaft des Evangeliums zu ziehen sind, muss sich aus unserer heutigen Situation ergeben. Darüber kann man streiten. Wir haben dafür keine biblischen Kronzeugen, die der einen oder anderen Seite eindeutig Recht geben. Allerdings können wir aus den biblischen Zeugnissen Impulse für die Diskussion gewinnen, etwa was die Vielgestaltigkeit von Gemeindevorstellungen betrifft.
Zum Sabbatgebot: Auch nach Markus hat Jesus den Sabbat nicht abgeschafft, sondern das am Sabbat Erlaubte von der Not des Menschen her bestimmt. Diese Grundlinie ist auch bei Matthäus zu erkennen.
Zur Ehescheidung: Die so genannte »Unzuchtsklausel« gilt in der Tat als matthäischer Zusatz. Aber versucht der Evangelist das Verbot bzw. die »Tora-Kritik« zu relativieren? Ich habe in einem früheren Kommentar darauf hingewiesen, dass eine von den Vorschriften des geschriebenen Gesetzes abweichende Bestimmung nicht notwendig als torawidrig aufgefasst werden musste. Wahrscheinlich geht Mattthäus (bzw. seine Tradition) davon aus, dass die Ehe durch Ehebruch zerstört ist. Dabei leitet ihn wohl vertraute jüdische Tradition, aber nicht die Intention, die Weisung Jesu zu »re-judaisieren«.
Und ja, ich denke, dass der matthäische ein leicht harmonisierter Jesus ist, dem ein wenig die Spitzen genommen werden, indem er das Gesetz geradezu überbietet. Das ist was anderes, als es zu kritisieren. Im Sinne von: "Schaut her ihr Pharisäer, mit diesem Jesus könnt ihr gut leben, nehmt ihn als den Messias an." Und ja, das hat sicher auch seine Berechtigung in der historischen Situation des Evangelisten.