»Hosianna« oder »Kreuzige ihn«?

Gegensätzliche Wahrnehmungen zum Verhältnis von Medien und Papst 

Dass die Welt sehr unterschiedlich erlebt werden kann, legt sich uns Menschen nicht nur durch die Anziehungskraft nahe, die Stinkmorcheln auf Mistkäfer ausüben. Wir wissen darum, dass die Geschmäcker verschieden sind und man darüber nicht streiten kann. Da aber nicht alles Geschmacksfrage ist, können unterschiedliche oder gar gegensätzliche Wahrnehmungen auch verstörend wirken. Betrachtet man, wie das Verhältnis der Medien zum Papst und seinem Deutschlandbesuch bestimmt wird, so gehen die Urteile extrem auseinander – wie wenn eine Stinkmorchel einmal mit den Rezeptoren des Mistkäfers, das andere Mal mit der menschlichen Nase gerochen würde.


Der Papstbegeisterte

Peter Seewald hat im Blick auf das Vorfeld des Papstbesuchs eine aggressive Feindseligkeit gegen den Papst diagnostiziert, eine »antikirchliche Medien-Phalanx«, »Meinungsterror« und »ungeheure Stimmungsmache«. Schlimmste literarische Phantasien sind hier Wirklichkeit geworden: 

»Das Ganze erinnerte an Georges Orwell (sic) '1984', wo ein imaginärer Feind, ein Popanz, aufgebaut wird, um die Menge aufzustacheln. Jemand, der gegen die Gleichgültigkeit kämpft, der sich nicht den Mechanismen des Polit- und Mediengeschäftes unterwirft, wird dann verzeichnet als finstere Gestalt. Und wo dies nicht gelang, wollte man den Papst förmlich tot schreiben.«
Wo lassen sich solche journalistischen Attentate identifizieren? Vielleicht im Stern?
»'Auf die kurze Euphorie des Anfangs', schrieb der 'Stern', 'folgte für viele Deutsche eine irreparable Entfremdung von ihrem Landsmann'«.
Ist das ein Versuch, »den Papst förmlich tot (zu) schreiben«? Da müsste der vermutete Attentäter schon einen Stier mit einem Reißnagel erledigen wollen. Dass der Spiegel nicht zu Lobeshymnen ansetzt, war zu erwarten: Kirchenkritik ist hier ein Erbstück (auch wenn sich mit Matthias Matussek seit einiger Zeit beim Spiegel ab und zu auch die Gegenseite austoben darf). Aber eine Medienkampagne? Sie für das Vorfeld des Papstbesuchs zu unterstellen hat freilich den Vorteil, dass man deren völliges Scheitern konstatieren kann:
»Aber alle wurden eines Besseren belehrt. Wo waren denn die Massen der Kritiker und Protestierer? Nirgendwo zu sehen.«

Die Papstgegner
 

Diese Unsichtbarkeit lässt sich Papstkritikern zufolge erklären: Es liegt an den Medien, die den Protest totgeschwiegen haben. Die Giordano-Bruno-Stiftung berichtet auf ihrer Homepage von den Protesten: 
»Es war die größte kirchenkritische Demonstration, die in Deutschland je stattgefunden hat: Rund 15.000 Menschen gingen am 22. September in Berlin auf die Straße, um gegen reaktionäre Dogmen, diskriminierende Sexualpolitik und verfassungswidrige Privilegien der katholischen Kirche zu protestieren. Auch bei den beiden anderen Stationen des Papstbesuches in Erfurt und Freiburg regte sich massiver Widerstand.«
Mit Zahlen ist das so eine Sache, Differenzen zwischen Veranstalter- und Polizeiangaben sind nicht selten. Der Humanistische Pressedienst, zu dessen Trägern die Giordano-Bruno-Stiftung gehört, beklagt sich, Radio Berlin Brandenburg habe
»die Zahl der Demonstranten in Berlin zunächst nur mit 4.000 statt 10.000 angegeben«.
Plötzlich sind 5000 abhanden gekommen. Der Focus gab die Meldung der dpa wieder, wonach es »mehrere tausend« waren, die in Berlin demonstriert haben. Dass die Stiftung in ihrem Bericht zu Erfurt und Freiburg keine Zahlen nennt, ist kein Zufall. Der Humanistische Pressedienst teilt zur Erfurter Veranstaltung mit:
»Anfangs fanden sich vor dem Hauptbahnhof etwa 300, vorwiegend jugendliche Teilnehmer ein. Am Ende haben etwa 800 Menschen teilgenommen, dreimal so viele wie erwartet!«
Zur Freiburger Station habe ich bei diesem Pressedienst nichts gefunden, nach Polizeiangaben sollen es 400 gewesen sein – wie auch in Erfurt (s. hier). Das ist also der »massive Widerstand«, der sich in diesen beiden Städten regte: maximal 1200 Leute, aber immerhin mehr als erwartet! Wenn es um die eigene Sache geht, kann die Stiftung, die sich der »Aufklärung im 21. Jahrhundert« verschrieben hat, auch mal Nebelkerzen werfen. Umso stärker soll die Kritik an den Medien wirken:
»In den deutschen Leitmedien wurden die lautstarken Proteste jedoch, wenn überhaupt, nur am Rande erwähnt.«

Wirklichkeitsfremde Wahrnehmung
 

Haben die Medien antipäpstlichen Meinungsterror Orwellschen Ausmaßes betrieben (Seewald) oder sich zum Büttel der Verfilzung von Staat und Kirche in Deutschland gemacht (Giordano-Bruno-Stiftung, Humanistischer Pressedienst)? Man liegt wohl kaum falsch, wenn man keines dieser beiden Extreme akzeptiert. Da ich in der katholischen Kirche zu Hause bin, interessiert mich in erster Linie die Sicht des Katholiken.

Das Urteil, seine Wahrnehmung sei wirklichkeitsfremd, stützt sich zwar nicht auf einer umfassenden Analyse der Berichterstattung zum Papstbesuch; aber was ich mitbekommen habe, war von antipäpstlicher Stimmung weit entfernt. In der Live-Berichterstattung des Fernsehens konnte geradezu ehrfürchtig die Epiphanie des Kirchenoberhaupts ersehnt werden (»der Papst ist jetzt auf dem Weg zum Messegelände«, »seine Limousine müsste jetzt hinter der Altarwand stehen«, »wir können ihn noch nicht sehen, aber er müsste gleich aussteigen«). Dass sich die Medien nicht zum Pressesprecher des Vatikans machen, kann man ihnen nicht vorwerfen. Wenn die Süddeutsche Zeitung in ihrer Druckausgabe titelt »Papst enttäuscht Protestanten«, bezeugt das keinen »Hang zur Demagogie«, wie Seewald meint. Es nimmt Äußerungen auf, die gefallen sind, und deutet vielleicht nicht ganz unzutreffend das begrenzte Ausmaß an Begeisterung, das aus der (auch von Seewald zitierten) Äußerung des Präses der EKD spricht: »Ich bin zufrieden.«
 

Dass Peter Seewald überschwängliche Worte für den Papst findet (»das große Plus-Zeichen dieser Welt«; »selten zuvor hat man in Deutschland soviel Kluges, Weises und Wahres, soviel Grundsätzliches gehört«), hat sicher auch ehrenwerte biographische Gründe. Muss man aber Benedikt XVI. im Anschluss an Lk 4,29f als Christus-Ikone stilisieren? 
»Man wollte den Nachfolger Petri gewissermaßen den Berg hinunterstürzen – am Ende aber sehen wir, wie er durch die wilde Medienmeute hindurch geht, ohne auch nur für eine Sekunde die Fassung zu verlieren.«
Wer so weit geht, ordnet konsequenterweise schon der Anflug von Kritik am Papst in umfassende Katastrophenszenarien ein. Dies mag aus Sicht des Verehrers den Vorteil haben, dass sich das Ausbleiben der Katastrophe geradezu als Wunder preisen lässt. Dies hat aber seinen Preis: Die Kluft zwischen Kirche und »Welt« wird durch solche Verzerrungen der Wirklichkeit künstlich vertieft.

Ein gewisses Maß an Nüchternheit, in der sich die »Welt« von der Kirche  angemessen wahr- und ernstgenommen erfahren kann, dürfte die Verkündigung des Evangeliums stärker befördern als jenes überzogene Ausmaß von Papstverehrung, zu dem nach meiner Kenntnis Katholiken nicht verpflichtet sind.

Kommentare

Volker Schnitzler hat gesagt…
Seewald kann durchaus noch als einer der harmloseren Papstverehrer angesehen werden. Auf kath.net ist noch Beeindruckenderes zu lesen. Hier steigert sich die Papstverehrung in einen wahrhaften Wahn mit all seinen furchtbaren Auswüchsen:

http://kath.net/detail.php?id=33354
Gerd Häfner hat gesagt…
@ Volker Schnitzler

Sie haben recht, ich kenne diesen wahrlich erschütternden Beitrag, dessen Beginn die Stilisierung des Papstes als Christus-Ikone bei Peter Seewald noch weit übertrifft. In einem kleinen Nachschlag zur Frage des Verhältnisses der Medien zum Papst habe ich vor, den Artikel in einer Nebenbemerkung zu nennen.
Anonym hat gesagt…
Danke für den Link, diesen Erlebnisbericht von Valèrie van Nes kannte ich noch gar nicht. Ich finde ihn aber anders als vieles andere aus diesem Spektrum außerordentlich erheiternd und sehr amüsant geschrieben, richtig lustig stellenweise, ich würde fast sagen, selbstironisch, vielleicht ungewollt, aber zumindest aber in humorvoller Weise selbstentlarvend. Ich kann mir nicht vorstellen, dass die Autorin bei der Schilderungen nicht selbst gelacht haben soll, selbst wenn sie wirklich so denken sollte. Jedenfalls wird jedem halbwegs nüchternen Leser die Lächerlichkeit dieses Klerikalismus mehr als klargemacht. "Tatsächlich, da, neben den Klohäuschen, dort stand ein Priester, in persona christi capitis. Sofort warfen wir uns alle vor ihm auf die Knie und empfingen dankbar das allerheiligste Altarsakrament." Und dann die Szene, in dem sie den "jugendlichen Ministranten, einen mächtigen Hünen", dabei beobachtet, wie er gegenüber einer "Frau mit dunkelrot gefärbter Kurzhaarfrisur und Leopardenanzug (...) die Handkommunion ganz bewusst verweigert". Wenn das nicht zum Krieschen (ripuarisch für "Weinen") komisch ist, dann weiß ich es nicht!

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