Welche Note hätte Paulus in »Schönschrift« bekommen?

Obwohl sich die Forschung durchaus darum bemüht hat, die Bildung des Paulus genauer zu bestimmen, sind bislang keine Schulzeugnisse aus Tarsus aufgetaucht. Wir müssen die Frage also auf indirektem Weg beantworten. Einen Ansatzpunkt bietet Gal 6,11, wenn man sich nicht an die Einheitsübersetzung hält, die den Vers folgendermaßen wiedergibt:
»Seht, ich schreibe euch jetzt mit eigener Hand; das ist meine Schrift.« 
Dies ist eine sehr freie Übersetzung des griechishen Textes. Die Elberfelder Bibel ist näher am ursprünglichen Wortlaut, wenn sie übersetzt:
»Seht, mit was für großen Buchstaben ich euch mit eigener Hand geschrieben habe!«
Die Verwendung der Vergangenheitsform (»geschrieben habe«) deutet nicht darauf hin, dass Paulus den ganzen Brief eigenhändig geschrieben hätte. Zwei Beobachtungen sprechen gegen eine solche Folgerung. (1) Die Aufforderung »Seht!« deutet auf etwas hin, was für diese Stelle gelten muss, und nicht für den ganzen Brief. Die Vergangenheitsform erklärt sich aus den Besonderheiten des Briefstils: der Verfasser denkt von den Lesern aus; wenn sie den Brief lesen, ist der Schreibvorgang bereits Vergangenheit. (2) Wir wissen aus anderen Stellen, dass Paulus seine Briefe nicht selbst aufgeschrieben, sondern diktiert hat. In Röm 16,22 grüßt Tertius, der Schreiber des Briefes die Adressaten in Rom. Am Ende des 1. Korintherbriefs setzt Paulus einen eigenhändigen Gruß hinzu (1Kor 16,21). Im Philemonbrief bekräftigt er seine Aussage, für eventuelle Schädigungen des Philemon durch den Sklaven Onesimus aufzukommen, durch einen eigenhändigen Vermerk (Phlm 19).
 

Warum erwähnt Paulus, dass er mit großen Buchstaben schreibt? Recht häufig wird in der exegetischen Literatur die Ansicht vertreten, der Apostel wolle durch die Großschrift darauf hinweisen, dass jetzt besonders Wichtiges folge. Da aber die Aufmerksamkeit schon durch den ausdrücklich vermerkten Schriftwechsel genügend geweckt wird (Paulus schreibt jetzt »mit eigener Hand«), scheint mir diese Erklärung nicht die nächstliegende zu sein - auch wenn man zugeben muss, dass eine sichere Deutung kaum möglich ist. Aber warum einen Hintersinn in der Bemerkung des Paulus suchen? Man kann, wie das in der Exegese auch vorgeschlagen wird, einfach an den banalen Sachverhalt denken, dass ein ungeübter Schreiber zur Produktion von großen Buchstaben neigt. Ein bisschen Selbstironie kann man Paulus durchaus zutrauen, wie das bereits Hans Lietzmann in seiner Auslegung getan hat: Paulus »schreibt mit großen Zügen und lächelt hier über seine ungelenke Schrift«. In dieses Bild fügt sich auch die Tatsache gut ein, dass Paulus seine Briefe diktiert hat.

Es ist also nicht damit zu rechnen, dass Paulus in »Schönschrift« eine gute Note erhalten hätte. Dass man ihm aber überhaupt eine Note in diesem Fach hätte geben können, dürfte ihn unter den Aposteln besonders auszeichnen.

Kommentare

Roland Breitenbach hat gesagt…
Ach, wenn ich an meine eigene Schönschrift denkke ...
Volker Schnitzler hat gesagt…
Vielleicht war es noch banaler und die Buchstaben des Paulus waren nur im Verhältnis zu denen des Schreibers größer und er wollte mit dem Hinweis die Tatsache unterstreichen, dass er nun wirklich selber zur Feder gegriffen hat.
Gerd Häfner hat gesagt…
@Roland Breitenbach

Ich äußere mich hier als Unbeteiligter zum Thema Schönschrift.


@Volker Schnitzler

Inwiefern könnte ein Anlass zu einem solchen Unterstreichen bestehen, wenn Paulus ausdrücklich vermerkt, nun mit eigener Hand zu schreiben? Das ist so deutlich, dass es kaum noch steigerungsfähig ist.
Volker Schnitzler hat gesagt…
Naja, das geht alles ins Spekulative, scheinbar gab es einen Anlass für Paulus, in dieser Eindeutigkeit darauf hinzuweisen. Vielleicht sind Briefe von ihm als Fälschungen oder Plagiate verunglimpft worden. Seine Gesetzeskritik, gerade hier im Galaterbrief, ist schließlich sehr massiv und bei vielen Judenchristen auf Unverständnis gestoßen. Der Vorfall in Antiochia im zweiten Kapitel zeigt diesen Konflikt sehr deutlich.

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