Das Märchen vom »Märchen von den 7 Evangelistlein«

Wer suchet, der findet. Und wer doch nicht findet, der erfindet. Das funktioniert auch bei Skandalen. Ein solcher wird in Rückgriff auf eine KNA-Meldung der Zeitschrift »Welt und Umwelt der Bibel« angedichtet. Sie soll »abenteuerliche Dinge über die Heilige Schrift« behauptet haben, die »klar im Widerspruch zum Verständnis des 2. Vatikanums stehen« (s. hier). Es werde eine »verwirrende These« vorgetragen, nämlich dass die »Verfasser der vier Evangelien im Neuen Testament … trotz intensiver Forschung 'anonym'« blieben.

Das ist nun seinerseits eine verwirrende These, denn in dem kritisierten Heft von »Welt und Umwelt der Bibel« wird der Stand der Forschung präsentiert. Dass die Evangelien anonym überliefert und erst nachträglich mit den Namen von Matthäus, Markus, Lukas und Johannes versehen wurden, ist keine absonderliche These, sondern historische Tatsache. Im Wortlaut der Evangelien ist in keinem Fall der Verfasser genannt, erst zur Unterscheidung in den Handschriften tragen die einzelnen Werke die Titel »nach Matthäus«, »nach Markus« usw. So nennt der Verfasser des dritten Evangeliums im Kanon zwar den Adressaten, dem das Werk gewidmet ist, mit Namen (Theophilus), nicht aber sich selbst. Und der Nachtrag zum Johannes-Evangelium führt das Werk zwar auf den »Jünger, den Jesus liebte« zurück (Joh 21,24); dass der Johannes heiße, wird aber an keiner Stelle gesagt. Es ist also nach gegebener Quellenlage ein historisch gesicherter Befund, dass die Autorenangaben zu den Evangelien erst aus dem 2. Jahrhundert stammen. Wer das verwirrend findet, muss sich mit seiner Beschwerde nicht an »Welt und Umwelt der Bibel« wenden, sondern an die Geschichte.

Das liegt den Kritikern allerdings recht fern, denn sie argumentieren gegen den geschichtlichen Befund mit Hinweis auf Aussagen des II. Vatikanums. Man fühlt sich an den Ausspruch Hegels erinnert, als er darauf hingewiesen wurde, dass seine Theorie nicht mit den Tatsachen übereinstimme: »umso schlimmer für die Tatsachen.« Noch stärker erinnert das Vorgehen an den Antimodernismus unter Pius X., als die Päpstliche Bibelkommission allein mit Hinweis auf die Tradition, ohne Argumentation historische Fragen zur Bibel entschied. 

Zur Interpretation von Dei Verbum 18

Wir müssen aber noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Wurden auf dem II. Vatikanum denn überhaupt Texte verabschiedet, die der Annahme widersprechen, dass die Evangelien erst nachträglich bestimmten Verfassern zugeschrieben wurden? Die Skandal-Riecher aus Linz berufen sich auf Dei Verbum 18, wo es »klipp und klar« heiße:
»Am apostolischen Ursprung der vier Evangelien hat die Kirche immer und überall festgehalten und hält daran fest; denn was die Apostel nach Christi Gebot gepredigt haben, das haben später unter dem Anhauch des Heiligen Geistes sie selbst und Apostolische Männer uns als Fundament des Glaubens schriftlich überliefert: das viergestaltige Evangelium nach Matthäus, Markus, Lukas und Johannes.«
Nun bedeutet die Rede vom apostolischen Ursprung nicht, dass Apostel die Verfasser der Evangelien seien, denn dies ist für das Lukas-Evangelium durch dessen Vorwort direkt ausgeschlossen und auch für das Markus-Evangelium von der altkirchlichen Tradition nicht behauptet worden. 

So sagt auch Artikel 18 von Dei Verbum nicht ausdrücklich, Matthäus, Markus, Lukas und Johannes seien die Verfasser. Angeführt wird »das viergestaltige Evangelium nach Matthäus, Markus usw.«. Wenn es heißt, die Apostel und Apostolische Männer hätten ihre zuvor mündlich ausgerichtete Predigt schriftlich überliefert, kann man dies zwar so lesen, dass sich darin die Differenzierung zwischen Matthäus und Johannes einerseits (Apostel) sowie Markus und Lukas andererseits (apostolische Männer) ausdrückt – so hat es wohl die Konzilsminderheit verstanden. Diese Aussage wird aber nicht ausdrücklich erreicht und in der Wendung »das viergestaltige Evangelium nach ...« gerade keine Unterscheidung getroffen im Blick auf die Bestimmung der Verfasser als Augenzeugen oder Apostelschüler. Für die Konzilsmehrheit war die Fassung von Artikel 18 insofern akzeptabel, als eine Festlegung in der Verfasserfrage unterblieb.

Im dargelegten Sinn kommentierte Béda Rigaux: »Das Konzil gibt nicht genauer an, auf welche Weise die Apostel am Ursprung der Evangelien stehen. Diese enthalten die apostolische Verkündigung, aber das Ausmaß der apostolischen Einwirkung bei der Redigierung der Schriften wird nicht angegeben« (Einleitung und Kommentar zu Kapitel IV; V der Offenbarungskonstitution »Dei Verbum«, in: LThK, Ergänzungsband 2, Freiburg 1967, 558-570, hier: 566).

Wie wenig der Text eine Eindeutigkeit im behaupteten Sinn stützt, zeigt sich im Übrigen auch an der Art und Weise, wie diese Eindeutigkeit im kath.net-Beitrag begründet wird. Der Gewährsmann Hans-Joachim Schulz bezieht sich darauf, dass eine Aussage des Irenäus aufgenommen sei (Adversus haereses III 11,8) und Irenäus eine wirkliche Verfasserschaft der vier genannten Evangelisten ausgesagt habe. Wenn aber Dei Verbum hier auf diesen Kirchenvater zurückgreift, ohne dessen Position zu den Verfassern der Evangelien ausdrücklich zu nennen, dann lässt sich daraus auch schließen, dass sich der Konzilstext diese Position nicht zu eigen gemacht hat. In jedem Fall wird, wenn man auf den nicht zitierten Kontext aus Adversus haereses rekurriert, indirekt zugegeben, dass der Konzilstext nicht so eindeutig ist wie behauptet. Und das bedeutet: Die Thesen aus dem kritisierten Heft stehen nicht »im Widerspruch zum 2. Vatikanum«, sondern zu einer Interpretation des 2. Vatikanums, und zwar derjenigen, die der Redaktion von kath.net angenehm ist. Zutreffend heißt es: »Dass diese Thesen sogar im Widerspruch zum 2. Vatikanum stehen, dürfte den Autoren und auch den Agenturen (sc. KNA und KAP) nicht bekannt gewesen sein.« Denselben Wahrheits- und Informationsgehalt hätte freilich die Aussage: »Dass die Erde eine Scheibe ist, dürfte den Autoren und den Agenturen nicht bekannt sein.« 

Zur Interpretation von Dei Verbum 19

Noch deutlicher zeigt sich im Blick auf das Zitat aus Artikel 19, wie eine Eindeutigkeit des Konzilstextes behauptet wird, die faktisch nicht besteht: 
»Unsere heilige Mutter, die Kirche, hat entschieden und unentwegt daran festgehalten und hält daran fest, dass die vier genannten Evangelien, deren Geschichtlichkeit sie ohne Bedenken bejaht, zuverlässig überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat bis zu dem Tag, da er aufgenommen wurde (vgl. Apg 1,1-2).« 
Ein eigener Kommentar wird zu diesem Zitat in dem kath.net-Beitrag nicht gegeben. Also scheint der Zusammenhang so gedacht zu sein: Die Evangelien werden in DV 19 als historisch zuverlässige Zeugnisse markiert und dies stützt die Annahmen der kirchlichen Tradition über die Verfasser dieser Schriften. Ich sehe sonst keine Möglichkeit, wie überhaupt ein Gegensatz zwischen der zitierten Aussage und den kritisierten Positionen aus dem Heft »Welt und Umwelt der Bibel« konstruiert werden könnte. 

Wenn es in DV 19 heißt, die Kirche bejahe die Geschichtlichkeit der Evangelien ohne Bedenken, so wird nicht erklärt, was mit Geschichtlichkeit gemeint ist (historicitas): Ist es die Einbindung in eine bestimmte geschichtliche Situation, aus der folgen könnte, dass aufgrund der damals üblichen Redegattungen (s. DV 12) nicht nur geschichtlich Zuverlässiges überliefert werden sollte? Oder soll es gerade die geschichtliche Zuverlässigkeit der Inhalte des Evangeliums sein? Die Fortsetzung bringt keine Klarheit. Die Aussage, dass die Evangelien
»zuverlässig überliefern, was Jesus, der Sohn Gottes, in seinem Leben unter den Menschen zu deren ewigem Heil wirklich getan und gelehrt hat bis zu dem Tag, da er aufgenommen wurde«,
kann man im Sinne umfassender historischer Zuverlässigkeit der Evangelien deuten. In diesem Fall wäre die Zielbestimmung »zu deren ewigem Heil« unbetont. Das Gewicht der Aussage läge darauf, dass die Evangelien zuverlässig überliefern, was Jesus wirklich gesagt und getan hat – und insofern es um Wort und Tat des Gottessohnes geht, geht es auch um ein heilsrelevantes Geschehen. Wer zur grundsätzlichen und umfassenden historischen Zuverlässigkeit der Evangelien mit gutem Grund skeptisch bleibt, kann den Satz aber auch anders deuten: Es geht nur um die zuverlässige Überlieferung dessen, was am Wirken Jesu heilsrelevant ist

Dass diese zweite Interpretation in die richtige Richtung geht, ergibt sich aus mehreren Beobachtungen. (1) In Entwürfen zu Dei Verbum 12 wurde als Ziel der Schriftauslegung benannt, die Wahrheit und historische Zuverlässigkeit der heiligen Schriften nachzuweisen. In den verabschiedeten Text wurde diese Passage nicht aufgenommen (vgl. Joachim Gnilka, Die biblische Exegese im Lichte des Dekretes über die göttliche Offenbarung (Dei verbum), in: MThZ 36 (1985) 5-19, hier: 9f). Eine Aussage über die grundsätzliche und umfassende Historizität der Evangelien wurde also vermieden. (2) In Dei Verbum 11 wird von den Büchern der Schrift gesagt, dass sie 
»sicher, getreu und ohne Irrtum die Wahrheit lehren, die Gott um unseres Heiles willen in heiligen Schriften aufgezeichnet haben wollte«. 
Hier kann die Bestimmung um unseres Heiles willen nicht unbetont sein. Überträgt man dies auf die Aussage von Dei Verbum 19, ginge es dort darum, dass die Evangelien zuverlässig überliefern, was Jesus zum Heil der Menschen getan hat. (3) In demselben Artikel, in dem die diskutierte Passage steht, heißt es, dass die Apostel nach Ostern ein volleres Verständnis der Jesusüberlieferungen erreicht haben. Ihr Anliegen kann dann nicht nur ein Berichten des Gewesenen sein, sondern ist von der Deutung im Licht von Ostern bestimmt. (4) Auch aus der Umschreibung der Tätigkeit der Evangelisten ergibt sich, dass es nicht einfach um die Gleichsetzung von Text und Geschichte gehen kann: 
»Die biblischen Verfasser aber haben die vier Evangelien redigiert, indem sie einiges aus dem vielen auswählten, das mündlich oder auch schon schriftlich überliefert war, indem sie anderes zu Überblicken zusammenzogen oder im Hinblick auf die Lage in den Kirchen verdeutlichten, indem sie schließlich die Form der Verkündigung beibehielten«. (DV 19)
Nicht nur die Feststellung, die Evangelisten hätten das überlieferte Material redigiert, öffnet die Tür für ein Verständnis der Texte, das deren Wahrheit nicht in der historischen Zuverlässigkeit sucht; in dieselbe Richtung weist auch der Befund, »die Form der Verkündigung« sei beibehalten worden. 

Schwebend wird die Aussage aber wieder durch die Fortsetzung: 
»... indem sie schließlich die Form der Verkündigung beibehielten, doch immer so, dass ihre Mitteilungen über Jesus wahr und ehrlich waren.«
Offensichtlich sollten Einsichten der neueren Exegese aufgenommen, aber so formuliert werden, dass auch die Konzilsminderheit Ansatzpunkte für ihre Sicht finden konnte.

Ein grundsätzliches Problem

Aber selbst wenn man den Text von Dei Verbum in dem Sinne interpretiert, dass hier eine Aussage über die Verfasser der Evangelien getroffen werden sollte, bleibt ein grundsätzliches Problem zu bedenken. Historische Urteile können nur durch historische Urteile in Frage gestellt werden. Wenn historische Forschung zu dem Ergebnis führt, dass im Fall der Evangelien die Verfasserzuschreibungen aus dem 2. Jahrhundert stammen und durch die Werke selbst nicht bestätigt werden können, sich aus diesen vielmehr Argumente gegen diese Zuschreibungen ergeben, dann kann ein solches Urteil nicht dadurch aus der Welt geschafft werden, dass man sagt: Das II. Vatikanum hat sich dazu aber anders geäußert. 

Außerdem ist zu bedenken: Das II. Vatikanum hat in Dei Verbum 12 sachlich das Programm einer historisch-kritischen Exegese umrissen. In dem vom Papst selbst präsentierten Dokument der Päpstlichen Bibelkommission »Über die Interpretation der Bibel in der Kirche« (1993) ist die historisch-kritische Bibelauslegung auch unter diesem Begriff offiziell anerkannt worden. Eine solche Anerkennung kann aber nicht unter dem Vorbehalt stehen, dass historisch-kritische Exegese zu den Ergebnissen führt, die mit traditionellen Positionen übereinstimmen. Sie wäre gerade nicht anerkannt, wenn geschichtliche Urteile allein aus der kirchlichen Tradition begründet würden. Dies entspräche, wie gesagt, dem Programm des Antimodernismus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, aber nicht den Positionen, die die Kirche seit dem II. Vatikanum eingenommen hat.

Zum Schluss

Viel stärker als die Thesen jenes Heftes von »Welt und Umwelt der Bibel« trägt die auf kath.net geäußerte Kritik mit ihrer Eindeutigkeitsillusion zur Verwirrung bei. Nicht wenige Leserkommentare bestätigen dies ungewollt. Es wäre vielleicht auch nicht zu viel verlangt, vor dem Hervorholen des Holzhammers das Heft zur Gänze wahrzunehmen und nicht mit Rückgriff auf eine kurze Agenturmeldung auf das Katholische Bibelwerk einzuschlagen. Aber wo man auf Differenzierung so reagiert wie der Teufel auf Weihwasser, kann man solche Bemühung wohl nicht erwarten.

Einfacher ist es, eine Empfehlung für Klaus Bergers »Die Bibelfälscher« anzufügen, damit die Leser nicht vergessen, dieser ganzen Exegetenbande zu misstrauen. Wenn die Exegeten durch die unsägliche Überschrift (»Das Märchen von den 7 Evangelistlein«) als Märchenerzähler charakterisiert werden, so ist zu beachten, dass dies durch Märchenerzähler geschieht. 

Kommentare

Volker Schnitzler hat gesagt…
Ich hatte gehofft, dass Sie auf diesen unsäglichen Beitrag auf kath.net noch eingehen würden. Vielen Dank dafür!
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Was kath.net sagt, interessiert die Welt kaum.

Doch wenn die kath.Wissenschaft um die Entstehung der Evangelien, wie sie im Themenheft beschrieben sind weiß. z-B. der geschichtlichen Ausformung von Weisheitslogien, bei der die aus kosmischer und kulturgeschichtlicher Realität hergeleitete präexistente Weisheit das Them war, und dann weiter nur einen Wanderguru als einzig historisch gelten lässt, dann ist diese Verweigerung von Wissen weit schlimmer, als kath.net.
Anonym hat gesagt…
Was Gerhard Menzel sagt - und wieder und wieder und wieder sagt -, interessiert die Welt noch weniger als was kath.net sagt, das sich in seinen pseudowissenschaftlichen Phantasien jedenfalls manchmal Neues ausdenkt.

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