Sonntagsevangelium (124)

Palmsonntag (A): Mt 26,14-27,66

In der Passionsgeschichte verändert Matthäus zwar seine Vorlage (Mk 14,1-15,47) auch im Detail, doch finden sich die auffälligsten Eingriffe im Rahmen von Erweiterungen, nicht von Abwandlungen der vorgegebenen Erzählung (zur Mk-Passion s. hier).

Judas

So wird die Figur des Verräters vor allem durch die Sondertradition vom Tod des Judas (27,3-10) mit eigenem Profil dargestellt. Auch die Szene vom Verrat (Mk 14,10f) hat Mt umgestaltet, indem er nicht einfach das Faktum des Verrats erzählt, sondern Judas mit einer Frage den Hohen­priestern gegenübertreten lässt:
»Was wollt ihr mir geben, damit ich ihn euch überliefere?« (Mt 26,15). 
Meist wird dies als Ausdruck der Geldgier gedeutet: Judas will wissen, was bei einem Verrat Jesu für ihn herausspringt und ist bei zufriedenstellendem Ergebnis bereit für die niederträchtige Tat. In diesem Fall würde Matthäus anders als Markus ein Motiv für den Verrat einbringen. Ein erster Schritt zur absolut negativen Deutung der Judas-Gestalt, wie sie das Johannes-Evangelium bietet, wäre unternommen. 

Betrachtet man die Erzählung vom Ende des Judas, legt sich ein anderes Verständnis seiner Frage an die Hohenpriester nahe (ich greife hier aus dem Gedächtnis auf die ausgezeichnete Diplomarbeit zurück, die Diana Pettinger vor Jahren an der Katholisch-Theologischen Fakultät der LMU München vorgelegt hat). In dieser Erzählung findet sich ein Erfüllungszitat, das auf die dreißig Silberstücke Bezug nimmt. Dabei geht es aber nicht um Judas, sondern um das Handeln der Hohenpriester: Sie haben den Preis festgesetzt. Die dreißig Silberlinge waren der Preis,
»den man geschätzt hatte bei den Söhnen Israels« (27,9).
Deshalb fragt Judas: »Was wollt ihr mir geben?« Nicht weil sich darin seine Geldgier ausdrückte, sondern weil die Hohenpriester dadurch Gelegenheit haben, eine Geldsumme festzusetzen, die ihnen die Verhaftung Jesu wert war. So ließ sich das Erfüllungs-Zitat in 27,9f in Verbindung mit dem Ackerkauf auf sie anwenden. Dass sie das Geld als »Blutgeld« kennzeichnen (27,6), betont nicht die Schuld des Judas, sondern ihre eigene. Sie haben es bezahlt, um einen Unschuldigen töten zu können.

Matthäus bietet das differenzierteste Judasbild der Evangelien. Nur in seinem Evangelium stoßen wir auf die Aussage, Judas habe seine Schuld erkannt und seine Tat bereut (27,3). Er erhängt sich aus Verzweiflung über seine Tat. Es handelt sich nicht (wie in Apg 1,18) um eine göttliche Strafaktion, die den Verräter am Genuss der Früchte seines Verrates hindert. Judas fängt mit dem Blutgeld nichts an, er gibt es ja zurück. Deshalb besteht kein Grund, die Aussage von der Reue nicht ernst zu nehmen.

Pilatus und das Volk 

Die Rolle des Pilatus im Verhör wird durch zwei Sondertraditionen eigens ausgestaltet. Sie haben beide zum Ziel, die Unschuld Jesu durch Vertreter Roms betonen zu lassen. (1) Die Frau des Pilatus bezeichnet Jesus als »Gerechten«, der Statthalter solle mit ihm nichts zu schaffen haben. Diese Formel, die in Exorzismen den Bereich des Dämons von dem des Wundertäters abgrenzen soll, dürfte hier wohl so zu verstehen sein, dass sich der Bereich des Gerichtsherrn Pilatus mit dem eines Unschuldigen nicht überschneiden darf. Als Richter ist Pilatus höchstens insofern zuständig für Jesus, als er ihn freisprechen muss.

(2) Der römische Statthalter erklärt sich für »unschuldig am Blut dieses (Menschen)« (27,24). Auch wenn er nicht ausdrücklich Jesus als unschuldig bezeichnet, ist dies in der Aussage doch vorausgesetzt. Pilatus verurteilt Jesus nicht, weil er ihn eines todeswürdigen Verbrechens überführt hätte. Er will allein einen entstehenden Aufruhr verhindern – deshalb überliefert er Jesus zur Kreuzigung (27,24.26). 

Auf die Unschuldserklärung, die Pilatus für sich selbst vorbringt, reagiert die anwesende Volksmenge mit dem Wort:
»Sein Blut über uns und unsere Kinder« (27,25). 
Damit ruft das Volk das Unheil des unschuldig vergossenen Blutes auf sich selbst herab. Die Ausdrucksweise ist aus dem Alten Testament bekannt, jedoch nicht in einer auf sich selbst gerichteten Aussage (vgl. z,B. Jos 2,19; 2Sam 1,16). Dass es sich hier um eine Selbstverfluchung handle, wird heute mit Recht meist abgelehnt. Der Text des Matthäus gibt dafür keinen Anhaltspunkt.

Die meisten Kommentatoren gehen davon aus, dass der Evangelist auf die Erfüllung dieser Aussage bereits zurückblickt. Das Unheil des unschuldig vergossenen Blutes hat sich in der Zerstörung Jerusalems ausgewirkt. Dafür spricht die heilsgeschichtliche Gleichnis-Trilogie in 21,28-22,14. Dass im Gleichnis vom königlichen Hochzeitsmahl »die Stadt der Mörder« niedergebrannt wird (22,7), ist nur angemessen zu verstehen, wenn man diese Strafaktion auf die Ablehnung und Tötung der Gottesboten deutet und eine Anspielung auf die Zerstörung Jerusalems erkennt (s.a. 23,35f.38). 

Die Aussage des »ganzen Volkes« in 27,25 hat also für Matthäus einen sehr konkreten Bezugspunkt. Die unheilvolle Wirkungsgeschichte der angeblichen Selbstverfluchung kann sich nicht auf seinen Text berufen. Anders gesagt bedeutet dies auch: Dieser Text ist nicht mit seiner Wirkungsgeschichte zu belasten. Die vorgestellte Interpretation von 27,25 erweist keinen Antijudaismus des Evangelisten. Er vertritt vielmehr ein jüdisches Deutemuster, wenn er das in der Geschichte erfahrene Unheil als göttliche Strafe dafür versteht, dass Israel vom Weg Gottes abgewichen ist. Auf diese Weise wurde die Katastrophe des babylonischen Exils bewältigt; und auch die Zerstörung Jerusalems im Jahr 70 wurde innerjüdisch mit der Sündenbeladenheit Israels in Verbindung gebracht (so in der apokalyptischen Schrift 4Esra).

Dass sich nach der Trennung von Judentum und Christentum jenes Deutemuster christlicherseits nicht mehr auf die eigene Geschichte bezog, brachte eine wesentliche Verschiebung mit sich und hat wohl dazu beigetragen, dass Mt 27,25 missverstanden wurde als Rechtfertigung einer durch die Generationen hindurch fortbestehenden Schuld. Dies liegt genauso jenseits des matthäischen Textes wie die Absurdität, dass sich Christen zu Agenten göttlicher Strafe berufen sahen.

Ereignisse beim Tod Jesu 

Eine sehr auffällige Erweiterung begegnet im Zusammenhang mit dem Tod Jesu. Nachdem Jesus gestorben ist, bebt die Erde, die Gräber öffnen sich, viele Heilige werden auferweckt und erscheinen vielen in Jerusalem (27,51b-53). Die Deutung dieses Einschubs ist schwierig. Die Schwierigkeiten rühren nicht zuletzt daher, dass die Szene in zeitlicher Hinsicht gesprengt wird. Erdbeben, Spaltung der Felsen, Öffnung der Grabkammern und Auferweckung vieler Gerechter – all dies wird (wie das Zerreißen des Tempelvorhangs) mit dem Tod Jesu verbunden. Dagegen ist das Erscheinen der Auferweckten in Jerusalem nach der Auferstehung Jesu angesetzt.

Die Erzählfolge wird dadurch unklar. Wenn es heißt, das Bekenntnis des Hauptmanns (und seiner Mitsoldaten) sei angesichts »des Erdbebens und des Geschehenen« ergangen, ist offensichtlich die Folge des Erdbebens mit im Blick, also auch die Öffnung der Grabkammern und die Auferweckung vieler Heiliger. Dies wird aber 27,53 zufolge erst nach der Auferstehung Jesu sichtbar in den Erscheinungen. Wie kann das dann der Hauptmann unter dem Kreuz erkennen? 

Diese erzählerische Schwierigkeit spricht dafür, dass hier vor allem ein theologisches Signal gegeben werden soll. Immerhin begegnet ein ganzer Verbund von apokalyptischen Motiven. Wenn diese Motive auf den Tod Jesu bezogen werden, dann wird dieser Tod als Beginn der Wende zur Heilszeit markiert. In ihnen ist die Auferstehung Jesu zeichenhaft vorweggenommen (vgl. Ingrid Maisch, Die österliche Dimension des Todes Jesu, in: Auferstehung Jesu – Auferstehung der Christen. Deutungen des Osterglaubens, hrsg. von Lorenz Oberlinner, Freiburg 1986, 96-123).

Die Bewachung des Grabes und der Betrug der Hohenpriester 

Im Zusammenhang mit dem Grab Jesu kennt Mt zwei Sondertraditionen, die innerlich zusammenhängen. Die Hohenpriester und Pharisäer bitten Pilatus um eine Bewachung des Grabes, damit ein Diebstahl des Leichnams Jesu durch seine Jünger ausgeschlossen würde. Die Jünger sollen nicht das Grab leeren und dann die Auferstehung Jesu verkünden können (27,63f). Die besondere Ironie der Szene liegt darin, dass diejenigen, die einen Betrug verhindern wollen, selbst zu Betrügern werden. Die Wächter werden zu Zeugen der Graböffnung (28,2-4) und berichten dies den Hohenpriestern (28,11 - nicht mehr im Lesungstext des Palmsonntags). Die sorgen nun dafür, dass die Wahrheit nicht ans Licht kommt.

Der Abschluss der Szene durch den Erzählerkommentar (28,15) erweist die Herkunft der beiden zuletzt besprochenen Abschnitte. Matthäus schreibt gegen eine Bestreitung der urchristlichen Osterbotschaft, eine Bestreitung, die das leere Grab nicht in Frage stellt, aber an der Mehrdeutigkeit dieses Faktums ansetzt und es anders erklärt: Man muss das Grab nur leer räumen, dann kann man die Auferstehung des Begrabenen behaupten. Matthäus betreibt in 27,62-66 und 28,11-15 Apologetik gegen Einwände, die in seiner Zeit gegen die urchristliche Verkündigung erhoben wurden, indem er die Entstehung jener Einwände auf einen Betrug zurückführt.

Ist er damit selbst Opfer der Strategie geworden, einen angeblichen Betrug durch einen Betrug aus der Welt schaffen zu wollen – durch die Erzählung von der Bestechung der Wächter? Kein anderer Evangelist weiß von dieser Episode, und man darf mit Recht fragen, wie Matthäus an die internen Informationen aus dem Hohen Rat gekommen sein soll. Es handelt sich also um literarische  Gestaltung. Matthäus will damit einem Gerücht entgegentreten, das seiner Überzeugung nach die Glaubwürdigkeit des Christusbekenntnisses zu Unrecht, ja leichtfertig oder gar böswillig bestreitet: Einem solchen Gerücht soll man keinen Glauben schenken. Beschränkt man sich auf diese Intention, kann man mit dem Vorgehen des Matthäus seinen Frieden machen. Als Beleg für »die Bosheit der Hohenpriester« lässt sich die Episode aber nicht auswerten.

_________________________
photo credit: Walwyn chartres 033 via photopin (license)

Kommentare

Gerhard Mentzel hat gesagt…
Sehr geehrter Herr Häfner,

auch dieser Kommentar macht bei Licht betracht wieder deutlich: Beim großen Prozess der Zeitenwende, den hellenistisch-jüdische Kultliteraten (hier der den neuen jüdischen Montheismus für die Griechen öffnende Matthäus) schildern, kann es nicht nur um einen rebellischen jungen Wanderprediger oder Weisheitslehrer gegangen sein. Auch ein rein literatisches Konstrukt, was bei den heutigen Kritikern meist hinten rauskommt, schließt sich aus. Als neuer Josua, lat. Jesus war das Wort/die Weisheit der Zeit das Thema. Was bekanntlich hellenistische Juden der Zeit in der Vernunftlehre antiker Aufklärung (Logos) verstanden. Wer von der jüdischen Tradition verurteilt und von der Frau des Römers als der "Gerechte" gesehen wurde, war kein junger Guru, der alles etwas besser wusste und als Religionsrebell auftrat.

In vielen Aussagen ihrer Auslegung verweisen sie auf die theologische Bedeutung der Aussagen in literarischer Gestaltung und Bezug auf das AT. Sie wissen dabei auch, wie die Verfasser der Texte, das reformende hellenistische Judentum, das AT in allegorischem Vestand auf die Beine zeitgemäßer Vernunft (Logos) stellte, die nun als universales Wort galt. Nicht allein, weil ein hellenistisch-jüdischer Theologie nie und nimmer einen jungen Mann in der Weise beschrieben, in den Himmel gehoben hätte, wie das die bekannten Evangelisten oder andere Denker der Zeit tun, bitte ich das Thema der theologischen Literatur, gerade auch beim Psalmsonntag, vom Logos (wir sprechen heute von Vernunftlehre, nach der die Wissenschaft alles Werden und was schöpferisch wesentlich war und sein wird erklärt) aus zu beleuchten, wie er hellenistischen Juden heilig war, als Wort und Weisheit galt.

Selbst wenn der Markus genannte hellenistisch-jüdische Literat und der auch die Weisheitslogien der Zeit aufgreifende und in eine auch römisch verständliche Geschichtsform bringende (so zur Geschichte werdende) Matthäus die Story von einer Art jüdischem Wanderkyniker als Religionsrebellen aufgegriffen hätte, was absurd ist. Dann wäre es dem jungen Weisheitslehrer um das gegangen, was das Denken der Zeit bestimmte. Und worauf die Stoa oder die Kyniker ihre auch im NT nachzulesende Weisheiten gründeten, ist Ihnen auch bekannt. Ebenso, wie die jüdischen Hellenisten die Vernunftlehre am Anfang unserer Naturwissenschaft als schöpferisches Wort oder Weisheit verstanden.

Meistgelesen

»Pro multis«

Ein Gleichnis auf der Folterbank

Über Kreuz