Das umstrittene Memorandum (3)
Anmerkungen zum »Memorandum 'plus' Freiheit«
Das »Memorandum 'plus' Freiheit« ist eine »Antwort von Studierenden und AbsolventInnen der kath. Theologie auf das Memorandum Kirche 2011: Ein notwendiger Aufbruch«. Zur Zeit haben 51 Unterzeichner auf diese Weise ihre »Enttäuschung über das 'Memorandum' zum Ausdruck« gebracht. Ich will das Gespräch mit diesem »Gegenmemorandum« aufnehmen und auf die Antwort antworten.
Was will ein Memorandum?
Zunächst scheint es mir sinnvoll, auf den Charakter eines öffentlich vorgelegten Memorandums hinzuweisen: Ein solcher Text ist kein theologischer Traktat. Zumindest die kritische Frage an das Theologen-Memorandum »Ist das Theologie heute?« ist deshalb klar zu verneinen. Über die Folgefrage »Ist das die Weise, wie Theologen und Theologinnen sich zu Wort melden sollen?« kann man diskutieren. Ich nehme an, dass einige Kollegen und Kolleginnen nicht unterzeichnet haben, weil sie diese Art des öffentlichen Diskurses kritisch sehen und für wenig erfolgversprechend halten. Und man kann darüber streiten, ob der Text des Memorandums im Blick auf die theologische Begründung mehr hätte investieren können. Zu bedenken ist aber auch: Der Bezug auf die »Freiheitsbotschaft des Evangeliums« hat ein begrenztes Ziel; er liefert einen theologischen Ansatz im Blick auf die benannten Handlungsfelder und erhebt nicht den Anspruch, diese Freiheitsbotschaft umfassend theologisch zu entfalten.
Im Übrigen gilt die Unterstützung, die sich in einer Unterzeichnung ausdrückt, in erster Linie dem grundsätzlichen Anliegen, das sich im Memorandum äußert, also dem »offenen Dialog« in den Handlungsfeldern, die der Text benennt. Und dabei kann für manche Unterzeichner ein differenzierter Grad an Dringlichkeit bei den einzelnen Themen gegeben sein, ohne dass sich dies in der Unterschrift ausdrücken könnte. Es ist deshalb möglich, dass eine Kritik an einzelnen Formulierungen des Memorandums auch von Unterzeichnern geteilt wird. Aber das ist in deren Augen nicht so stark zu gewichten wie das positive Anliegen (ausführliche Rechenschaft über seine Unterzeichnung angesichts der Kritik am Memorandum gibt Roman A. Siebenrock in einem fundierten Aufsatz, der hier zu lesen ist).
Zu dem eigentlichen Anliegen des Professoren-Memorandums sagt die Antwort im »Memorandum 'plus' Freiheit« recht wenig. Benannt wird die überwiegende Beschränkung auf »strukturelle Maßnahmen«. Offensichtlich sehen die Autoren der Antwort die entsprechenden Vorschläge im Memorandum kritisch, denn es heißt:
»Es gibt sicher Dinge, die sich verändern können; aber man müsste fragen, welche Strukturen sich verändern können, so dass doch der Gehalt der gleiche bleibt, und welche nicht.«
Es folgt eine Besinnung auf die Kirche als Kirche Jesu Christi und das Beispiel Christi:
»Jesus suchte in allen schwierigen Momenten die Stille und das persönliche Gebet zu seinem Vater. Mit Blick darauf lässt sich auch die Frage beantworten, was es in Momenten der Krise zu tun gilt.«
Ich verstehe den angezielten Zusammenhang so: Wir brauchen nach Ansicht der Autoren weniger Überlegungen zu strukturellen Maßnahmen als vielmehr Gebet. Muss man aber beides gegeneinanderstellen? Vielleicht soll in der Antwort der Studierenden auch nur moniert werden, dass im Theologen-Memorandum kein Aufruf zum Gebet steht. Aber wäre das wirklich wünschenswert? Könnte so nicht der Eindruck entstehen, Gebet sei eine Strategie zur Lösung von Problemen? Das Memorandum ist kein spiritueller Text, sondern befasst sich mit dem, was jetzt angesichts der Krise der Kirche in praktischer Hinsicht auf der Tagesordnung stehen sollte.
Die Glaubwürdigkeitskrise
Ist das viel zu oberflächlich gedacht, weil die gegenwärtige Krise in erster Linie eine Glaubens- oder Gotteskrise ist? Dieser Einwand wurde des Öfteren geäußert. Es geht allerdings im Memorandum in erster Linie um die Glaubwürdigkeitskrise der Kirche, die sich im letzten Jahr in Deutschland so heftig verstärkt hat. Deshalb sollte man hinter dem Memorandum nicht den Anspruch erkennen, dass mit den dort genannten Punkten die Krise kirchlich gebundenen Glaubens überwunden wird. Es geht vielmehr darum, die Voraussetzungen dafür zu schaffen, dass das Evangelium überzeugend verkündet werden kann. Dass durch Strukturen noch kein Glaube geschaffen wird, ist nicht zu bestreiten. Damit ist die Frage nach der angemessenen Form kirchlichen Lebens aber noch nicht erledigt. Konrad Hilpert hat in einem Beitrag in der Zeitschrift »Christ in der Gegenwart« (Nr. 9/2011, S. 94) den Zusammenhang in folgendem Bild erläutert:
»Der Gottglaube ist der untergründig tragende und nährende Strom, der gängig gehalten, im Wandel der Zeit und des Denkens immer wieder erschlossen und gepflegt ‑ 'erneuert' ‑ werden muss. Die Aufgabe der real existierenden Kirche jedoch ist es, dafür zu sorgen, dass das Leitungsrohrsystem so ausgelegt ist, dass das nährende Wasser auch zu den Endverbrauchern gelangen kann: durch Strukturen der Seelsorge, durch gute Ausbildung und durch überzeugende persönliche Zuwendung.«
Die Schärfe der Glaubwürdigkeitskrise scheint mir in der Antwort der Studierenden auf das Memorandum nicht angemessen erfasst. Diese Antwort ist geprägt von der Binnenperspektive, lässt sich nicht wirklich beunruhigen von der Art und Weise, wie Kirche heute vielfach von außen wahrgenommen wird. Da kann dann theologisch Richtiges referiert werden, das uns aber in der gegenwärtigen Situation keine praktische Orientierungshilfe gibt: der notwendige Blick auf Christus als das Haupt der Kirche, die Verbindung von Freiheit und Wahrheit, die durch die Bindung an Christus wachsende Freiheit. Am deutlichsten zeigt sich die Beschränkung auf den internen Blickwinkel in der Formulierung:
»Kirche ist gerade in Krisenzeiten eine glaubwürdige Zeugin der Freiheitsbotschaft des Evangeliums, denn insbesondere dort weist sie über sich selbst hinaus, da sie sich Christus verdankt.«
Wenn es nur so einfach wäre! In Krisenzeiten wie der unsrigen ist das Problem, dass Kirche vielfach als auf eigenen Erhalt bedachte Institution gesehen und ihr gerade nicht abgenommen wird, sie wolle nur auf einen anderen verweisen. Ich will natürlich nicht behaupten, dass dies ein angemessenes Bild kirchlicher Realität im Ganzen wäre. Andererseits lässt es sich auch nicht einfach auf das Wirken kirchenfeindlicher Mächte zurückführen, haben doch gerade die Vorgänge des letzten Jahres dieses Bild bestärkt.
Die Missbrauchsfälle – und das Verschweigen
Die Erschütterung, die das vergangene Jahr gebracht hat, bezieht sich nicht allein auf die Tatsache, dass Missbrauchsfälle vorgekommen sind. Es geht auch darum, dass sie über Jahre hin vertuscht wurden. Dies wird in der häufiger geäußerten Kritik am Einstieg des Memorandums nicht ausreichend beachtet. Die Verharmlosung des Fehlverhaltens, das Ausblenden der Opferperspektive, die Geheimhaltung der beschämenden Vorgänge ‑ all dies kann strukturell begünstigt sein und hätte durch eine breiter verankerte Beteiligung zumindest erschwert werden können. Es gibt deshalb durchaus einen Zusammenhang zwischen den Missbrauchsfällen und Themen, die das Memorandum anführt.
Selbstverständlich ist richtig, dass Missbrauchsfälle auch außerhalb der Kirche vorgekommen sind; dass sie relativ häufig bei pädagogisch Arbeitenden und am allermeisten in der Familie geschehen. Es ist ebenso richtig, dass sie bei der Kirche medial am intensivsten verfolgt worden sind (bei der Odenwaldschule erst im Sog der Berichterstattung über die Fälle in der Kirche, obwohl schon zehn Jahre zuvor vieles aufgedeckt war; ein (auch selbst-) kritischer Artikel dazu in der Zeit: hier). Es hilft uns aber nichts, wenn wir dies auf eine kirchenfeindliche Haltung der Medien zurückführen. Denn zum einen ist das kritisch gestimmte Interesse der Medien an der Kirche eher Symptom als Ursache der genannten Glaubwürdigkeitskrise. Zum andern müssen wir auch bedenken: Wer öffentlich mit hohem moralischem Anspruch auftritt wie die Kirche, wird auch selbst daran gemessen. Nicht nur das eventuelle Versagen einzelner Vertreter steht dabei im Fokus, sondern auch, wie die Institution damit umgeht. Der Einstieg des Memorandums mit den Missbrauchsfällen ist kein billiger Trick, um alte, liebgewordene Themen in den Vordergrund zu rücken. Er benennt den Punkt, an dem ein grundsätzliches Problem schmerzlich offenkundig geworden ist: Welche Gestalt muss Kirche heute haben, damit das Evangelium glaubwürdig verkündet werden kann ‑ und zwar auch denen, die am Rand oder außerhalb stehen?
Wenn heute auf die Glaubens- oder Gotteskrise verwiesen wird, hat man bisweilen den Eindruck, diese Krise sei ein individuelles moralisches Problem derjenigen, die sich von der Kirche abwenden oder sich ihr nie zugewendet haben (sie müssen eben von ihrem hedonistischen Leben umkehren). Oder man könne diese Krise allein dadurch überwinden, dass man auf Vollzüge kirchlichen Lebens aus der früheren Zeit zurückgreift, »als die Kirchen noch voll waren«. Das ist aber zu kurz gegriffen. Wahrscheinlich mühen wir uns noch immer ab mit den Problemen der Begegnung von Kirche und moderner Welt, einer Welt, zu der Merkmale wie individuelle Freiheit, Autonomie, Gleichheit,demokratische Herrschaftsform, auch Traditionsbruch gehören. Der Versuch, die Kirche von dieser Welt abzuschotten, ist kein Zukunftskonzept, sondern ein bereits gescheitertes Experiment. Es hat die Position der katholischen Kirche im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts geprägt (»Antimodernismus«) – und die katholische Theologie in eine tiefe Krise gestürzt. Auf die Dauer ließen sich aber Theologie und Kirche nicht von den allgemeinen kulturellen Rahmenbedingungen abkoppeln. Das II. Vatikanum hat mit seiner Öffnung der Kirche auf die moderne Welt hin damit ernst gemacht. Dass sich der Antimodernismus nicht durchhalten ließ, macht deutlich: Es bleibt der Kirche nichts anderes übrig als ihren Ort in der modernen säkularen Welt »als von Gott verfügte Situation ... anzunehmen« (Johannes Först, in einem lesenswerten Beitrag der Zeitschrift »Lebendige Seelsorge« – Link zum pdf-Dokument hier oder hier).
Spannung zwischen zwei Polen
Mit den letzten Überlegungen soll nicht gesagt sein, dass Kirche sich der Welt gleichmachen müsste. Aber wo verläuft die Grenzlinie zwischen notwendigem »Aggiornamento« und identitätszerstörender Veränderung? Auch das Memorandum der Studierenden fordert einen »theologische[n] Dialog, der ... durch gemeinsames Hören auf die Wahrheit und die Herausforderungen der heutigen Zeit die Freiheitsbotschaft des Evangeliums aufscheinen lässt«. Es setzt stärker auf die Sicherung der Identität durch Bewahrung (und ist dabei vielleicht auch nicht frei von Strömungen des Zeitgeistes). Die Gefahr wird in der Anpassung gesehen.
Das Professoren-Memorandum dagegen stellt die Notwendigkeit in den Vordergrund »auf die Herausforderungen der heutigen Zeit« zu reagieren. Um einen Ausverkauf der Kirche und ihrer Tradition geht es dabei nicht. Gewiss kann die kirchliche Tradition nicht beliebig gedehnt werden, aber es gehört durchaus zu ihren Kennzeichen im Verlauf der Jahrhunderte, dass sie durch Veränderungen auf neue Bedingungen reagiert hat. Der Bischof Polykarp von Smyrna aus dem 2. Jahrhundert hätte gewiss Schwierigkeiten, sein Bischofsamt in den späteren Fürstbischöfen wiedererzuerkennen. Für den Verfasser der Johannes-Apokalypse lag es völlig außerhalb der Vorstellung, dass das Christentum römische Staatsreligion werden könnte. Der Autor der neutestamentlichen Pastoralbriefe müsste zur Kenntnis nehmen, dass von seiner Sicht der Voraussetzungen des Bischofsamtes – der Inhaber muss sich als Hausvorstand und Familienvater bewährt haben (1Tim 3,5) – nicht viel übrig geblieben ist.
Die Kirche hat sich im Laufe ihrer Geschichte an wechselnde Bedingungen angepasst. Das war eine der Voraussetzungen dafür, dass sie auch heute noch das Evangelium verkündet. Außerdem ist zu bedenken: Im Kontext einer evolutionären Weltsicht könnte es naheliegen, den Begriff der Anpassung nicht notwendig negativ im Sinne einer Identitätszerstörung zu verstehen.
Kommentare
Ein Beispiel: Der Erklärung der Kongregation für die Glaubenslehre „Inter Insigniores“, die die Priesterweihe für Frauen ausschließt, gelingt es nicht, diese Entscheidung biblisch zu begründen. In ihrer Vorbereitung wurde die Päpstliche Bibel Kommission, mit führenden Exegeten besetzt, beauftragt, das Neue Testament auf diese Fragestellung hin zu befragen. Das Ergebnis war, dass diese Fragestellung dem Neuen Testament unbekannt sei. Dieses Ergebnis wurde dann einfach ignoriert, so dass die Ablehnung im Grunde auf einem reinen Traditionsargument beruht.
Sollten aber Lehrentscheidungen, diese bekam durch „Ordinatio Sacerdotalis“ dogmatischen Charakter, nicht in der Offenbarungswahrheit begründet sein??
Wenn man dann bedenkt, dass in Röm 16,7 von einem Apostelpaar die Rede ist, die paulinischen Briefe darauf verweisen, dass hier Frauen (wie auch Sklaven und Heiden) ohne Unterschied in den Gemeinden lebten, beteten und auch Aufgaben übernahmen, dann stellt sich für mich schon die Frage, ob die Struktur der Kirche hier in diesem Punkt nicht der Offenbarungswahrheit entgegensteht.
Nach der urchristlichen, vorpaulinischen Taufformel Gal 3,28 sind durch die Taufe alle Menschen vor Gott rechtfertigt und alle Unterschiede aufgehoben. Und das wird in diesen urchristlichen Gemeinden auch gelebt! Nur so konnte das Christentum erfolgreich sein und nur deshalb ist es auch zuerst einmal als große Gefahr wahrgenommen worden, so dass die Christen verfolgt wurden.
Wenn Kirche wieder den Mut hat das befreiende und Grenzen überschreitende Evangelium unseres Herrn zu LEBEN, dann wird sich auch im Heute die Gotteskrise auflösen. Davon bin ich zutiefst überzeugt.