Ein »vatikanisches Dossier«

Seit dem Freitag vergangener Woche (10. Juni) geistert ein Vatikan-Dossier durchs Internet, auf das der Focus in seiner Druck-Ausgabe verweist (in der Online-Version ist dazu nichts zu finden, jedenfalls vorerst nicht). In diesem Dossier würde vor einer Kirchenspaltung gewarnt, die von interessierten Kreisen in Deutschland betrieben würde. Man vermute eine gezielte Regie, die die verschiedenen Aktionen der vergangenen Monate koordiniert habe: den Brief der acht CDU-Politiker gegen den Zölibat, die Veröffentlichung der Stellungnahme prominenter Theologen (einschließlich Joseph Ratzinger) aus dem Jahr 1970, das Theologen-Memorandum - jeweils im Wochenabstand. Hinter diesen Vorgängen stecke eine »konspirative Hierarchie«, zu der das Cusanuswerk und das katholische „Foyer für Gespräche zwischen Kirche, Gesellschaft, Politik“ in Berlin gehörten, dazu Personen in der katholischen Bischofskonferenz, in der CDU-nahen Konrad-Adenauer-Stiftung und im Jesuitenorden unter Provinzial Stefan Kiechle.  

Aus »vatikanischen Kreisen«

Ich beziehe diese Informationen von der Seite kath.net, die sich - kaum überraschend - des Themas angenommen hat. Wie seriös sind die Informationen über diese Verschwörungstheorie? Die Rede ist von einem »inoffiziellen Dossier«, das dem Focus »offensichtlich ... vorliegt«; außerdem wird auf den Vatikanexperten Andrea Tornielli (La Stampa) verwiesen, »der ebenfalls von 'vatikanischen Kreisen' spricht«. Das wirkt reichlich nebulös.
»Wenn Journalisten schreiben, sie hätten etwas 'aus Kreisen' erfahren, dann entweder, weil sie ihre Quellen schützen wollen, oder, weil ihre 'Quelle' die Schwägerin des Nachbarn des Hausmeisters ist.« (bildblog.de)
Wir haben es hier wohl nicht mit der ersten Möglichkeit zu tun. Immerhin hat der Rom-Korrespondent der »Deutschen Tagespost«, Guido Horst, selbst davon überzeugt, »dass es in der Kirche deutscher Zunge schon lange ein De facto-Schisma gibt«, über die Existenz eines solchen Dossiers im Vatikan nichts in Erfahrung bringen können. In seinem Blog Römische Warte erwähnt er im Eintrag vom 11.6.2011 folgende Reaktion auf seine Frage nach dem Dossier:  
»Gibt es nicht, wurde mir knapp erklärt. Und so verließ ich gestern den Vatikan mit einem neuen Auftrag: Nach einem Vatikan-Dossier zu suchen, von dem man im Vatikan nichts weiß.«

Plumpe Schein-Alternativen

Das Dossier scheint also in ausgesprochen hohem Maße inoffiziell zu sein. Und betrachtet man näher, wie »die romtreuen und romkritischen Strömungen« wiedergegeben werden, erweckt das Gerücht um das vatikanische Dossier den Eindruck eines ziemlich plumpen Manövers. Es soll laut Focus beim Treffen der Generalvikare der deutschen Bistümer Anfang Juni zu einer Grundsatzdebatte gekommen sein, in der folgende Frage verhandelt wurde:  
»Soll die Kirche um den Preis nationaler Alleingänge Dogmen und Traditionen über Bord werfen oder sich eher um eine Vertiefung im überlieferten katholischen Glauben bemühen? Soll sie sich weiter säkularisieren, demokratisieren oder auf ihrer spirituellen Gegenwelt bestehen? Die Mehrheit der katholischen Generalvikare plädierte für die erste und also ganz unrömische Variante.« (so die Darstellung des Focus-Artikels auf kath.net)
Das ist so, als wenn über eine Sitzung des Bundeskabinetts berichtet würde: »Debattiert wurde über die Frage: 'Sollen wir mit unserer Politik dem Volk schaden oder eher nützen?' Die Mehrheit der Minister entschied sich für die erste Variante.« Die Alternativen werden so tendenziös formuliert, dass nur eine Antwort möglich und das angebliche Verhalten der Mehrheit als völlig inakzeptabel erscheint. Anders gesagt: Hier wird eine Meinungsäußerung als Nachricht verpackt. Die Werbung bedient sich manchmal solcher Mittel und inszeniert Werbefilmchen als Nachrichtensendung. Man leiht sich die Seriosität einer bestimmten sprachlichen Form, um die eigentliche Intention der Äußerung zu verschleiern.

Weitere plumpe Alternativen werden direkt zitiert: 
»Handeln wahrhaft katholisch jene Bischöfe, Theologen und Funktionäre, von dem Rottenburg-Stuttgarter Oberhirten Gebhard Fürst über Bestsellerautor Hans Küng bis hin zum eher antirömischen „Bund der deutschen katholischen Jugend“ (BDKJ) und der „Katholischen Frauengemeinschaft Deutschlands“, die trotz päpstlicher Letztentscheidung das Priesteramt für Frauen erhoffen? Der BDKJ warb nun auf seiner Hauptversammlung für eine „geschwisterliche und dialogische Kirche“ und meinte faktisch den Abschied vom Glauben der Väter. ... Oder aber sind jene trotzigen Einzelkämpfer wie Martin Mosebach und Robert Spaemann eher katholisch, die die Tradition hoch halten und vor einem Abstieg der Kirche in die Tiefen der wohlmeinenden Vereinsmeierei warnen? ... Zwei Gegensätze stehen damit zur Wahl: eine horizontale Kirche der Abstimmung und des Dauerdialogs, in der auch Glaubenssätze Mehrheitsfragen werden können, und eine vertikale Kirche, die die überlieferten Sakramente durch die Zeiten trägt« (Hervorhebungen von mir).
Das ist eine Fragetechnik, die man auf andere Sachverhalte folgendermaßen übertragen könnte: Wem würden Sie Ihre Kinder eher anvertrauen, dem Drogen-Dealer, der auf dem Schulhof Heroin anbietet, oder der freundlichen Pädagogin die gerade das Bundesverdienstkreuz für ihren 25-jährigen ehrenamtlichen Einsatz in der Jugendarbeit erhalten hat? Wohin würden Sie lieber in Urlaub fahren: in eine ruhige Pension, die zu gemäßigten Preisen erstklassigen Service bietet oder in ein überteuertes Dreckloch, in dem Sie sich wegen des Baulärms nebenan nicht erholen können? Wäre Ihnen lieber, dass Ihr Chef Ihr Gehalt kürzt oder erhöht? Wer Alternativen dieser Art präsentiert, schließt eine ernsthafte Wahlmöglichkeit von vornherein aus. Nichts anderes geschieht im obigen Zitat. 

Die Strategie 

Welche Strategie steckt hinter solchen Formulierungen, die das Anliegen der Gegenseite verzerren? Auf diese Weise kann man unterstellen, die Reformdebatte ziele auf Kirchenspaltung. Wer die Themen auf die Tagesordnung setzt, die im Brief der CDU-Politiker und im Theologen-Memorandum zur Sprache kommen, wolle gar nichts anderes als ein Schisma herbeizuführen. Was eigenes Urteil der gegenwärtigen Situation ist (der Ruf nach Reformen führt zu einer anderen Kirche, bricht die Verbindung zur katholischen Tradition ab), kann man so der kritisierten Position als Absicht unterstellen. In der ersten Meldung am 10.6.2011 ist das auch recht deutlich ausgesprochen worden (s. hier).

In diesem Sinn ordnet das »vatikanische Dossier« die Reformkräfte offensichtlich einer absichtsvoll kirchenspaltenden Verschwörung zu. Eigentlich aber fürchten die Kreise hinter dem Dossier-Gerücht die Spaltung nicht. Sie scheinen sie geradezu herbeizusehnen, damit endlich ans Tageslicht komme, was dem eigenen Urteil zufolge die Gegenwart auszeichnet (im Sinne des obigen Zitats von Guido Horst vom »De facto-Schisma«). Dass man mit dieser Vermutung nicht ganz falsch liegt, bestätigen manche Kommentare auf kath.net, in denen die Spaltung begrüßt wird, weil sie die bereits bestehende Trennung weiter Teile der Kirche in Deutschland von Rom offenkundig mache (z.B. die Kommentare von proelio, Eichendorff, Augustinus 1 auf kath.net).

Eine »Gegen-Verschwörungstheorie«

Solche Verschwörungstheorien kann man sich übrigens recht leicht basteln. So ließe sich auch das Gerücht vom »vatikanischen Dossier« auf eine konzertierte Aktion gegen die Reformdebatte in Deutschland zurückführen. Als Ansatzpunkt nehme ich folgendes Zitat aus dem Beitrag von kath.net zum angeblichen Schisma:
»Für den 'Focus' liefert den bisher letzten Beweis für das Vordringen neukirchlichen Gedankenguts übrigens die katholische Hilfsorganisation 'Renovabis'. Im Gebetstext zur Vorbereitung auf das diesjährige Pfingstfest wird jungen Katholiken empfohlen, sie sollten sich öffnen für das Wirken des Heiligen Geistes im 'stummen Dasein Buddhas', im 'bewegten Tanz der Derwische' und im 'ehrfürchtigen Kniefall der Muslime'. Kath.Net hat exklusiv berichtet.« (Hervorhebung von mir)
Wenn über die Schelte an der Novene in den Materialien von Renovabis kath.net exklusiv berichtet hat und der Focus das jetzt aufgreift, scheint es zu einer gezielten Aktion jener Kräfte zu kommen, die (vorsichtig ausgedrückt) die Reformdebatte für schädlich halten. Dieser Eindruck könnte bestärkt werden durch den Bezug auf Gebhard Fürst im vorherigen Zitat: dass der Bischof von Rottenburg-Stuttgart als »böser Bube« herhalten muss, ist durch kath.net ebenfalls gut vorbereitet worden (z.B. hier und hier). Dass die schärfste Polemik gegen Fürst durch den Focus-Redakteur Alexander Kissler vorgetragen wurde (dazu den Beitrag Bischofs-Bashing), könnte den genannten Verdacht ebenso bestätigen wie die bereits angeführten Reaktionen in den Kommentaren auf kath.net, die zeigen, dass die Strategie verfängt.

Die Indizien ergeben ein stimmiges Bild, beweisen den behaupteten Sachverhalt aber selbstverständlich nicht. Vielleicht erfahren wir, vielleicht auch der Vatikan selbst, in den kommenden Tagen mehr über das »vatikanische Dossier«.

Kommentare

Anonym hat gesagt…
Warum wird in dem kath.net-Artikel http://www.kath.net/detail.php?id=31857 eigentlich nicht der Name des "Focus"-Autors genannt? Es handelt sich natürlich um Alexander Kissler. Damit die Geschichte von dem römischen Dossier objektiver und glaubwürdiger erscheint?
Interessant wäre es noch, folgender Frage nachzugehen: Gibt es vor der Meldung http://www.kath.net/detail.php?id=31843 irgendeinen Hinweis auf den Webseiten des "Focus" auf das Erscheinen dieses neuen Kissler-Artikels? Falls nicht, hat Kissler seinen Artikel offenbar vorher der kath.net-Redaktion zukommen lassen.
Volker Schnitzler hat gesagt…
Man sollte hier noch erwähnen, dass das Dossier von Herrn Kissler (siehe Link, http://www.kreuz.net/article.13346.html) auch die Jesuiten, Herrn Matthias Kopp und den Sekretär der Bischofskonferenz, Pater Hans Langendörfer, angreift und auch nahezu alle Generalvikare der Bistümer. Das ist schon eine sehr dreiste Nummer. Ich hoffe, dass die DBK dazu Stellung nimmt und die Konsequenzen aus dieser Geschichte zieht. Vielleicht rücken dann endlich Internetauftritte wie die von kreuz und kath.net einmal in den Focus. Dass diese Seiten äußerst tendenziös sind, habe ich selber schon erfahren, als meine relativierenden Kommentare einfach nicht veröffentlicht wurden, selbst wenn sie lediglich von Fakten sprachen. Rassistische, frauenfeindliche und intolerante Stellungnamen passierten jedoch problemlos die Zensur. Es ist eine Schande für den Katholizismus, wie diese Seiten arbeiten!
Anonym hat gesagt…
Es ist ein Skandal, dass deutsche Bischöfe wie Schick und Tebartz-van Elst einem Internetportal Interviews geben, zu dessen Hauptzwecken es gehört, andersdenkende Katholiken an den Pranger zu stellen und den ganzen Hass des rechtskatholischen Lagers zu versammeln (während, wie inzwischen allseits bekannt ist, liberale und gemäßigte Stimmen des deutschsprachigen Katholizismus kaum eine Chance auf Veröffentlichung im Leserkommentarbereich haben). Die Bischofskonferenz müsste sich klar von kath.net distanzieren, ihr Pressesprecher auch keine Stellungnahmen mehr gegenüber kath.net abgeben. Für Stellungnahmen Kopps und Interviews der deutschen Bischöfe gibt es katholisch.de und kath.de - es kann nicht sein, dass man innerhalb der Deutschen Bischofskonferenz die eigenen Internetportale missachtet und stattdessen ein höchst problematisches österreichisches Portal nutzt und dadurch aufwertet.
Anonym hat gesagt…
Am Beunruhigendsten finde ich, dass es mit dem Artikel Kisslers derlei Aktionen bis in eines der führenden Medien in Deutschland geschafft haben - auch wenn andere Blätter das zum Glück (bisher) nicht aufgreifen. Es wäre nur zu hoffen, dass kath.net und Kissler mit dieser Kampagne den Bogen überspannt haben.
Anonym hat gesagt…
Matussek fällt auch nichts mehr Besseres ein als von Kissler und kath.net abzuschreiben: http://www.achgut.com/dadgdx/index.php/dadgd/article/matthias_matussek1/
Welcher deutsche Bischof hat endlich den Mut zu sagen, dass diffamierende Berufskirchenkritiker wie Matussek und Kissler, die das Schisma herbeischreiben, den Namen des Katholischen missbrauchen?
Volker Schnitzler hat gesagt…
Der Rom-Korrespondent der Tagespost Guido Horst berichtet aus dem Vatikan, dass er das angebliche Dossier gefunden hat. Ein 6-seitiges Werk einer einzelnen Person, ohne jede Bedeutung. (vgl. http://www.die-tagespost.de/glaubensforum/blog/Gefunden-Das-Vatikan-Dossier;art1082,125237 )
Gerd Häfner hat gesagt…
@Volker Schnitzler
Vielen Dank für den Hinweis. Das zeigt, dass der Verdacht, hinter den "Kreisen" stecke "die Schwägerin des Nachbarn des Hausmeisters" (s. obiges Zitat von bildblog.de) nicht unberechtigt ist. Außerdem bestätigt sich die Vermutung, dass hier gezielt auf Spaltung hingearbeitet wird - indem man der Gegenseite Spaltungsabsicht unterstellt.
Andreas Metge hat gesagt…
Ach, mine Herren,
besonders Herr "Anonym": Hoffentlich machen die Bischöfe oder andere Verantwortlich NICHT die ganannten Siten dicht o.ä.! Hoffentlich geben gefragte Leute nach vielen Seiten Interviews, auch in die sehr konservative Ecke hinein! Denn das ist es, was ich mir von der katholischen Kirche erwarte: Offenheit und Gesprächsbereitschaft in viele Richtungen. Ich muss ja damit nicht immer einverstanden sein; aber nur so darf ich dann auch erwarte, dass meine Position gehört und nicht weggemobbt wird.
Zum "drohenden" "Schisma": Ich mache an den engagierten Rändern rechts und links nicht gerade viel kreatives Denken aus! Weder hilft der Ruf nach Weishe der Frau etc. erkennbar weiter (weil er die Bischöfe nur unter Druck setzt), noch das Reklamieren von "Rechtgläubigkeit durch Bewahren der Tradition", weil es der Lebenswirklichkeit Vieler zumindest in Europa nicht gerecht wird.
Da klaffen m.E. schon große Lücken im Katholischen! Ich hoffe, dass es eglingt, genau das auszuhalten...
Anonym hat gesagt…
Lieber Herr Metge,
niemand außer Sie spricht vom Dichtmachen der kath.net-Seite - das könnten die Bischöfe auch gar nicht, denn kath.net ist bekanntlich eine private Seite. Aber muss diese Seite dadurch aufgewertet werden, dass deutsche Diözesanbischöfe sie als Sprachrohr nutzen? Findet die "Offenheit und Gesprächsbereitschaft in viele Richtungen" nicht an der Achtung der Menschenwürde ihre Grenze? Die Aggressionen, die sich im Leserkommentarbereich von kath.net austoben, sind zum Teil menschenverachtend.
Theodor hat gesagt…
Lieber Herr Häfner,

wir hatten vor einiger Zeit in einem anderen Thread einen kleinen Disput über das Memorandum. Inzwischen bin ich selbst unter die Blogger gegangen und habe auch zu dem hier angesprochenen "Dossier" einige Anmerkungen geschrieben (http://summa-summarum.blogspot.com/2011/06/verschworungen-dossiers-und-das-spiel.html).

Mir ist klar, dass zwischen uns erhebliche Meinungsverschiedenheiten bestehen. Umso mehr würde ich mich freuen, wenn sich - quasi von Blog zu Blog - der eine oder andere Dialog im Sinne unserer Bischöfe führen liesse. Ich nehme Sie auf jeden Fall einmal in meine Blogliste auf.

Mit besten Grüßen
Theodor
Volker Schnitzler hat gesagt…
Hier ein Link zum Focus-Artikel. Muss man ja nicht unbedingt kaufen, dieses Schmierblatt ;-) So haben bestimmte Internetauftritte dann doch noch etwas Gutes.

http://justina.video.gloria.tv/?media=165401
Volker Schnitzler hat gesagt…
Dann mache ich auch mal ein wenig Werbung :-) Da ich heute frei hatte, habe ich eine kurze Glosse zu den Ereignissen um das geheime Dossier, von dem heute auf den einschlägigen Seiten keine Rede mehr ist, geschrieben.

http://schnitzler.myblog.de/
Anonym hat gesagt…
Abschließend sollte man hier noch auf den Tagespost-Artikel Guido Horsts hinweisen, der Kissler letztlich den Vorwurf macht, mit seiner Dossier-Geschichte dem Ansehen des Heiligen Vaters und der römischen Kurie zu schaden:

http://www.kath.net/detail.php?id=31948

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