Sonntagsevangelium (13)

7. Sonntag im Jahreskreis (B): Mk 2,1-12

Dass Krankheit und Sünde eng zusammenhängen, war in der Antike eine weit verbreitete Vorstellung; sie ist auch im Alten Testament bezeugt (z.B. Ps 38,4-6; 107,17f). In den Heilungswundergeschichten der synoptischen Evangelien erscheint dieser Zusammenhang nicht - mit einer Ausnahme: Jesus spricht einem Gelähmten vor der Heilung die Sündenvergebung zu, ohne dass deutlich würde, warum der Kranke Sünder ist (Mk 2,5). Wahrscheinlich erklärt sich diese Besonderheit dadurch, dass die Heilungsgeschichte nachträglich erweitert wurde um ein Streitgespräch über die Vollmacht zur Sündenvergebung.

Für ein solches Wachstum der Erzählung sprechen zwei Beobachtungen. (1) Der Übergang des Streitgesprächs zur Heilung (2,10) erweist sich als literarische Nahtstelle. In der Einheitsübersetzung ist dies allerdings nicht zu erkennen. Wörtlich übersetzt lautet der Vers: 
»Damit ihr seht, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden nachzulassen auf der Erde«, sagt er dem Gelähmten. 
Der Nebensatz erscheint im Rahmen der Figurenrede (Jesus spricht), der übergeordnete Hauptsatz gehört dagegen zur Erzählerrede. Der Satz ist in dieser Form also nicht korrekt konstruiert. Man hat zwar versucht, hier ein Stilmittel zu erkennen, das in Gerichtsreden belegt ist: den Abbruch der Satzkonstruktion nach der Einführung »damit ihr seht«. Eine wirkliche Parallele ist aber nicht gegeben, denn die Notiz des Erzählers (»sagt er dem Gelähmten«), dürfte dann nicht erscheinen. Der Bruch im Satzbau zeigt also doch eine literarische Naht an. 

Dass die Frage nach der Vollmacht zur Sündenvergebung nachträglich in die Geschichte gekommen ist, legt sich auch (2) angesichts der Reaktion der Zeugen nahe. In ihr ist der Widerspruch der Schriftgelehrten nicht mehr berücksichtigt. Ohne nähere Erläuterung heißt es einfach: »alle priesen Gott« (2,12). Sollen die Schriftgelehrten hier wirklich eingeschlossen sein? Zumindest im Rahmen des Markus-Evangeliums ist das ganz unwahrscheinlich, denn mit dieser Geschichte beginnt eine Reihe von fünf Streitszenen, die schließlich in einen Todesbeschluss gegen Jesus münden (2,1-3,6). Eine positive Reaktion der Schriftgelehrten zu Beginn wäre innerhalb dieses sich steigernden Konflikts ein Fremdkörper.

Wo die literarische Naht genau beginnt, ist nicht ganz eindeutig zu bestimmen. Gehört der Zuspruch der Sündenvergebung (2,5: »Deine Sünden sind dir vergeben«) zur ursprünglichen Heilungsgeschichte oder zum Einschub? Im ersten Fall könnte man gut erklären, warum das Streitgespräch ausgerechnet in die Erzählung von der Heilung eines Gelähmten eingefügt wurde: der Zuspruch der Sündenvergebung bot dafür einen Anhaltspunkt. Unklar bliebe allerdings, warum diese Heilungsgeschichte einen solchen (ursprünglich nicht weiter kommentierten) Zuspruch enthalten haben sollte. Dies wäre ja, wie gesagt, ein singulärer Fall für Heilungsgeschichten. Da zudem in V.10 die Redeeinführung von V.5 wörtlich wiederholt wird (»sagt er dem Gelähmten«), kann man auch damit rechnen, dass das Thema der Sündenvergebung in vollem Umfang nachträglich zugewachsen ist (2,5b-10). Für die Interpretation ergäbe sich dann noch deutlicher: Wenn der Zuspruch der Sündenvergebung eingefügt wurde, um das nötige Stichwort für das Streitgespräch zu geben, spielt der Gedanke, Krankheit sei auf Sünde zurückzuführen, keine Rolle. 


Eine Spannung müsste dieser Lösungsvorschlag allerdings in Kauf nehmen. Die Zusage der Sündenvergebung in 2,5 ist nicht so formuliert, dass sie unmittelbar auf das Streitthema hinführt. Die Schriftgelehrten stoßen sich am Anspruch Jesu, Sünden zu vergeben - ein Privileg, das nach jüdischer Tradition Gott vorbehalten ist. Ein solcher Anspruch ist in der Zusage aber nicht enthalten. Sie ist im Passiv formuliert: »deine Sünden sind dir vergeben«, nicht: »ich vergebe dir deine Sünden«. In biblischer Sprache wird so das Handeln Gottes ausgedrückt. Jesus spricht also nach 2,5 dem Gelähmten die Sündenvergebung durch Gott zu, während der Streit darum geht, ob der Menschensohn (also Jesus) die Vollmacht zur Sündenvergebung hat. 


In dieser Spannung drückt sich der Unterschied zwischen Verkündigung Jesu und nachösterlicher Christusverkündigung aus. Jesu Botschaft ist wesentlich davon geprägt, dass den Sündern die Vergebung durch Gott zugesagt wird. Dies ist auch der Sinn der Gemeinschaft Jesu mit Sündern (s. z.B.
Mk 2,15-17; Mt 11,19; Lk 7,36-50). Nach Ostern wird Sündenvergebung mit dem Bekenntnis zu Christus verbunden (z.B. Apg 2,38). Das Streitgespräch in Mk 2,5b-10 bringt diese christologische Ausrichtung der Sündenvergebung in die Form einer Erzählung vom Wirken Jesu. 

Kommentare

Gerhard Mentzel hat gesagt…
Von wem handelt diese Geschichte bzw. wer handelt, heilt, vergibt dem Gelähmten die Sünde? Wer ist mit dem Gelähmte überhaupt gemeint? Und was ist die Lahmheit, die durch das Wort (hebr. Verunft) oder den Sohn des Menschen geheilt wird. Der hier nicht einfach Gott selbst ist, wie im Streit mit den Schriftgelehrten deutlich wird.

Kann ein mit seiner Fischerfreunden um den See ziehender Heilsprediger, der für seine Anhänger als eine Art Gott galt (wie Jesus heute allgemein gilt), das Thema dieses Textes sein?

Ob nachträglich etwas am Text redigiert bzw. eingeschoben wurde, ist sicher schwer zu sagen. Wer dann gar die Lutherübersetzung liest, dem wird ein schönes Bild vor Augen geführt, wie da ein Wundertätiger Wanderprediger in einem Haus, dessen Dach... Dieses Bild hat bis zur Aufklärung getragen und war gut so: "Gott sei Dank".

Aber an solche Dinge können wir "Gott sei Dank" (oder war es doch der Menschensohn: die kulturelle Vernunft) nicht mehr glauben. Warum können wir darüber nachdenken, wie die kreative=schöpferische Vernunft das Thema des NT war, hier kulturelle Krankheiten bzw. Sünden geheilt wurden. Und kein wundertätiger Wanderprediger nur durch nachträgliche Einschübe mit einem besondern Heiligenschein versehen werden sollte.

Nimm dein Bett und geh, wandle... Warum kann das keine Aufforderung sein, die sich auch an die heutige Aufklärung incl. der Schriftlehre richtet?
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Sehr geehrter Herr Prof. Häfner,

ich möchte hier nicht lästig werden und auch nicht nur mit mir selbst reden.

Über die Begründung, was der, der nur heilte oder doch im Namen des Unsagbaren Sünden vergab, mit dem zu tun hat, der heute als historischer Jesus gilt (meist ein gegen die Römer oder Obrigkeit rebellendierender Prediger, dessen soziales Umfeld untersucht wird), würde ich mich freuen.

Mir geht es zwar nicht darum, einzelne biblische Geschichten beweisen zu wollen. Letztlich ist klar, warum die durch die vom Logos als Jesus schreibenden frühen Vätern der Kirche bzw. Herausgebern des Kanon (kulturvernünftigerweise) dem wundertätigen Götterkult entgegengesetzt, so eine klare volksverständliche Sprache und ein einheitlicher Kult begründet wurde. Mir geht es vielmehr darum einen Nenner bzw. histrisch realen Jesus zu suchen, der für die gesamten Bedeutungsaussagen und sehr vielfältigen Erneuerungsbewegungen steht. Der einen bildlosen Monotheismus begründete, der nicht nur für Griechen und Juden galt, sondern von dem das ausging, was dann zum Koran wurde oder auch dem heutigen Judentum.

Doch selbst diese im Grunde ganz banale Bibelstelle, die von Alters her das Bild des "guten wundertätigen Jugen" geprägt hat, verweist m.E. nicht auf einen heute historisch Heilsprediger, sondern ein hoheitliches Wesen, das heilte...

Doch warum allein phil. Lehren oder eine abstrakte Christologie und Schriftgelehrtheit zu kurz griff. Warum im Rahmen antiker Aufklärung erst die als schöpferisches Wort (hebr. Vernunft) verstandene und entsprechend alter Personifikationen belebte Vernunft allen Werdens die kulturelle Lähmung überwunden hat, lässt sich realgeschichtlich nachvollziehen.

Und lässt sich unsere Lähmung bzw. die Krankeit der Kirche durch den Glaube an einen wundertätigen Wanderprediger überwinden, dem dann später gar Sündenvergebung untergeschoben wurde?

Warum aber die Wahrnehmung des heute rational beschriebenen Werdens als ewiges Wort bzw. sinngebende Schöpfungswirklichkeit, die in der Antike in vielfältigen Gestalten ausgedrückt wurde, Christen mit Bart kennen (nicht Gott selbst war, sondern schöpferische und menschlich-kulturelle Wirklichkeit) die kulturelle Lähmung überwinden würde. Das ist u.a. unter "Visison schöpferischer Vernunft" (Homepage) nachzulesen.
Gerd Häfner hat gesagt…
Sehr geehrter Herr Mentzel,

Sie schreiben, Sie würden sich freuen über »die Begründung, was der, der nur heilte oder doch im Namen des Unsagbaren Sünden vergab, mit dem zu tun hat, der heute als historischer Jesus gilt (meist ein gegen die Römer oder Obrigkeit rebellierender Prediger, dessen soziales Umfeld untersucht wird).« Gewöhnlich wird der historische Jesus nicht als Rebell gegen jüdische und/oder römische Obrigkeit rekonstruiert, sondern als Verkünder des Reiches Gottes, wozu für Jesus vor allem folgende Aspekte gehören: Vergebung für die Sünder; Sammlung Israels; Anbruch der Gottesherrschaft in der Gegenwart mit den Zeichen der Überwindung der Macht des Bösen (Heilungen und Exorzismen); Ausrichtung auf die baldige Vollendung; der Anspruch, dass in seinem Wirken der endgültige Heilswille Gottes durchsetzt. Es gibt also durchaus einen Zusammenhang zwischen dem historischen Jesus und dem, »der nur heilte oder doch im Namen des Unsagbaren Sünden vergab«. Nur würde man in historischer Perspektive unterscheiden zwischen dem Anspruch, im Namen Gottes die Sündenvergebung durch Gott zuzusprechen, und der (nachösterlichen) Formulierung, Jesus selbst beanspruche für sich die Vollmacht, Sünden zu vergeben.

Im Übrigen scheint mir, dass Sie eine Theorie über die Entstehung der monotheistischer Religionen im Rückgriff auf die Person Jesu versuchen (»Der einen bildlosen Monotheismus begründete, der nicht nur für Griechen und Juden galt, sondern von dem das ausging, was dann zum Koran wurde oder auch dem heutigen Judentum.«). Das geht ganz offensichtlich über das Anliegen der biblischen Texte hinaus und, sofern sich das »hoheitliche Wesen« nicht historisch in das von den Evangelien angeführte Wirkungsfeld sinnvoll einordnen lässt, auch gegen die biblischen Texte.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Danke Herr Häfner,

auch für die Klarstellung, um was es im historischen Jesus ging und geht. Doch wer für die Verfasser Verkündung des Gottesreiches bzw. Anbruch der Gottesherrschaft in der Gegenwart, Sammlung Israels oder Vergebung der Sünden war.

Kann das nur ein Heilsprediger gewesen sein, dessen soziales Umfeld heute untersucht wird? Sprechen nicht all die von Ihnen aufgeführten Bedeutungsinhalte dafür, dass es den damaligen Denkern beim historischen Jesus um mehr ging als einen egal wie gearteten Heilsprediger, wie ihn nicht nur die Hochschultheologie, sondern auch die historische Radikalkritik in heutiger Hypothese kurz-schließt?

Denn auch die immer lauter werdende Kritik, die mir heute wieder von amazon angedient wurde, geht beim historischen Jesus von einem Zweibeiner aus. Damit sind aber nicht nur die hoheitlichen Aussagen Schnee von Gestern oder reine Blindglaubensbekennungen. Letztlich wird nach kritischer Auswertung des historischen Wissens dann nicht nur die gesamte Glaubenslehre, sondern auch das, was allgemein als historischer Jesus gilt, zu einem reinen Konstrukt der Kirche.

Mir geht bei der Frage des historischen Jesus, als dem in seiner Person (menschlichen Rolle/Aufgabe) lebendigen Wortes bzw. der Frage nach dem kulturgerechten Ausdruck von kreativer=schöpferischer Vernunft, nicht um den Anfang des Monotheismus, sondern eine reformende Erneuerung, die biblisch beschrieben ist, geschichtlich war.

Gleichzeit um ein aufgeklärtes Verständnis des historischen Wesens Jesus in der Gegenwart: Dadurch der Wahrnehmung heutiger Welterkärung als sinnvolle Schöpfungswirklichkeit/Wort, Sammlung Israels, Überwindung des Abfalls von realer schöpferischer Ordnung...

Kann das durch den Geschehen, der an den Hochschulen als historisch gilt? Können wir den Verfassern der biblischen Texte und den Herausgebern des Kanons daher weiter unterstellen, sie hätten das vor Augen gehabt, was heute als historisch gilt?

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