»Pro multis«, contra Lehmann et Papam

Die Debatte über das »pro multis« hat gestern ein kleines Lehrstück darüber geliefert, wie Texte so wahrgenommen werden können, dass man schon nicht mehr von wahrnehmen sprechen kann. Es scheint ein psychologisches Gesetz zu sein: Hat man sich erst einmal mit seinem Feindbild angefreundet, wirkt es wie ein Filter, der nur noch durchlässt, was zu diesem Bild passt. Manche sich besonders katholisch wähnende Kreise haben Kardinal Lehmann als einen Feind auserkoren, dessen Äußerungen zu äußerst heftigen Reaktionen führen. Mit Schaum vor dem Mund werden mir erregten Fingern herabwürdigende Kommentare in die Tastatur gehämmert - die moderne Internet-Variante der Maul- und Klauenseuche (stomatis epidemica commentatorum).

Was hat Kardinal Lehmann nun Furchtbares gesagt? Folgende Meldung auf kath.net hat dazu geführt, dass nicht wenige Kommentatoren den Jauchekübel hervorgeholt und sich als Abonnenten einer Unflat-Rate zu erkennen gegeben haben:



»Die vom Papst angeordnete neue Übersetzung der so genannten Kelchworte in der heiligen Messe ändert nach Ansicht des Mainzer Kardinals Karl Lehmann theologisch nichts. Es stehe nach den biblischen Texten außer Zweifel, dass Jesus für das Heil aller Menschen gestorben sei, betonte Lehmann am Freitag beim Katholikentag in Mannheim. Papst Benedikt XVI. gehe es mit den Worten 'für viele' lediglich um eine genauere Übersetzung der Textstellen, die Jesu Worte beim letzten Abendmahl schildern. Die Annahme vieler Theologen, dass Jesus damals ein aramäisches Wort benutzt habe, das letztlich 'für alle' bedeute, werde von der neueren Forschung in Frage gestellt. Insofern sei die neue Übersetzung 'für viele' an dieser Stelle tatsächlich genauer. Es ändere aber nichts daran, dass es an vielen anderen Stellen heißt, Jesus habe sich für alle geopfert.«
Das entspricht sehr genau dem Inhalt des Papst-Briefes an die deutschen Bischöfe. Darin war deutlich davon die Rede, dass sich mit der geforderten Übersetzung von pro multis keine Änderung an der theologischen Aussage von der universalen Bedeutung des Todes Jesu verbindet.
»Aber nun noch einmal: Warum 'für viele'? Ist der Herr denn nicht für alle gestorben? Dass Jesus Christus als menschgewordener Sohn Gottes der Mensch für alle Menschen, der neue Adam ist, gehört zu den grundlegenden Gewissheiten unseres Glaubens. Ich möchte dafür nur an drei Schrifttexte erinnern: Gott hat seinen Sohn 'für alle hingegeben', formuliert Paulus im Römer-Brief (Röm 8, 32). 'Einer ist für alle gestorben', sagt er im zweiten Korinther-Brief über den Tod Jesu (2 Kor 5, 14). Jesus hat sich 'als Lösegeld hingegeben für alle', heißt es im ersten Timotheus-Brief (1 Tim 2, 6).«  
Angesichts dieser klaren Aussagen des Neuen Testaments begründet der Papst ausdrücklich die Forderung nach der wortgetreueren Wiedergabe: 
»Aber dann ist erst recht noch einmal zu fragen: Wenn dies so klar ist, warum steht dann im Eucharistischen Hochgebet 'für viele'? Nun, die Kirche hat diese Formulierung aus den Einsetzungsberichten des Neuen Testaments übernommen. Sie sagt so aus Respekt vor dem Wort Jesu, um ihm auch bis ins Wort hinein treu zu bleiben. Die Ehrfurcht vor dem Wort Jesu selbst ist der Grund für die Formulierung des Hochgebets.«
Dass die Wiedergabe mit »für alle« nicht theologisch falsch war, wird ebenfalls ausdrücklich festgehalten:
»Die Wiedergabe von 'pro multis' mit 'für alle' war keine reine Übersetzung, sondern eine Interpretation, die sehr wohl begründet war und bleibt, aber doch schon Auslegung und mehr als Übersetzung ist.« 
Aber wo man die Zeit lieber damit verbringt, anderen antirömischen Kurs vorzuwerfen als Papst-Briefe zu lesen, scheint das nicht angekommen zu sein. Es gibt einige löbliche Ausnahmen unter den kath.net-Kommentaren, die auf die Übereinstimmung der Äußerung Kardinal Lehmanns mit dem Schreiben des Papstes hinweisen. Auf den Rest hat das aber nicht mehr Einfluss als der Ausgang des Champions League-Finales auf die Vegetation in Alaska. Wie das Niveau der Debatte in Richtung Erdmittelpunkt gesenkt wird, kann man sich an dem Kommentar vor Augen führen, den ich hier als einzigen zitieren will: 
»kollektiver Täuschungsversuch zweitklassiger Pänneler. Die deutschen Bischöfe stehen nun da wie ein Haufen Pänneler, die man beim kollektiven Täuschungsversuch erwischt hat. Der Vorlauteste von ihnen versucht nun, die Situation mit peinlichen Erklärungsversuchen zu retten. Kann man diese Leute eigentlich noch ernst nehmen???« (krak des chevaliers)
Wenn der Kommentator wüsste, wie sehr die letzte Frage auf ihn und seinesgleichen zurückfällt, hätte er seinen Text nicht nur orthographisch überarbeitet, sondern erst gar nicht veröffentlicht. Es hat etwas extrem Bizarres, wenn Vorschulkinder Aussagen über zweitklassige Pennäler treffen.

Le Pape, c'est moi


Der ganze Vorgang ist äußerst befremdlich. Man würde ja erwarten, dass diejenigen, die meinen, den Papst gegen Kardinal Lehmann verteidigen zu müssen, sich in die Ausführungen des Papstes in seinem Schreiben an die Bischöfe vertiefen. Es geht ihnen aber am Hirn vorbei. Die Übersetzung mit »für alle« wird häufig deshalb abgelehnt, weil sich mit ihr eine Heilsgarantie verbinden würde. Von solchen Vorbehalten ist im Papst-Brief nun gar nichts zu lesen, er bestätigt ja die theologische Angemessenheit des »für alle«. Wenn wir also in einem sehr katholischen Blog lesen: 

»'Für alle' würde bedeuten, daß auch Nichtchristen und Ungläubigen das Blut Christi zur Vergebung der Sünden quasi aufgedrängt wird«,
dann ist das die Privattheologie der Autorin, die sich weder auf das Neue Testament noch auf das Schreiben aus Rom berufen kann. Wer seine Papsttreue demonstrativ vor sich herträgt, ist nicht unbedingt davor bewahrt, den Papst als Spiegel für die eigene Meinung zu gebrauchen. Die Bloggerin fährt fort: 
»Man darf jetzt auf die Katechese der Bischöfe und Pfarrer im deutschen Sprachraum gespannt sein, die der Hl. Vater ja schon länger erwartet. Eine freundliche, aber deutliche Mahnung war längst fällig, bleibt zu hoffen, daß ihr diesmal nachgekommen wird.«
Richtig. Es zeigt sich tatsächlich, wie recht der Papst hatte, als er von der Notwendigkeit der Katechese bei der Einführung der Übersetzung mit »für viele« sprach. Besonders manchen seiner glühendsten Verehrer müsste klar gemacht werden, was diese Änderung nicht bedeutet - freundlich, aber deutlich. 

Bisweilen kann man den Eindruck gewinnen, der Papst müsse, wenn auch etwas anders als Fortuna Düsseldorf, vor seinen Fans geschützt werden.

Kommentare

Volker Schnitzler hat gesagt…
Vor allem vor den Fans, die hinter die Änderung der Abseitsregel von 1925 zurück wollen ;-)
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Und wieder einmal macht die Diskussion deutlich, wie absurd eine dogmatische Schriftgelehrtheit wird, wenn sie nur Buchstaben deutet, statt in der Realgeschichte zu blättern.

Wenn Jesus für die Verfasser der biblischen Texte der gutherzige Bin Laden gewesen wäre, der heute in der theologischen Wissenschaft als historisch gilt, wäre es nicht nur völlig egal, ob er für viele oder alle gestorben ist bzw. sein Tod so gesehen wurde. Darüber streiten zu wollen, würde in einer Zeit, in der noch so mittelalterliche Taliban nicht auf die Idee kommen würden, den Tod ihres von imperialistischer Macht hingerichteten Idoles als derartiges Heilsereignis zu deuten, die christliche Theologie zum Schwachsinn degradieren.

Doch Gott sei Dank wissen wir, dass es den Verfassern der NT nicht um einen hingerichteten Heilsprediger gegangen sein kann. Und wo wird auch dem Papst, der sich jetzt textgetreu auf viele bezieht und an alle denkt, bei seinen Jesusbüchern unterstellt, dass er vom biblischen Jesus bzw. einen hoheitlichen Wesen handelt: Der schöpferischen Vernunft schreiben würde, die auch im antiken Platonismus das Thema war.

Welche Heilswirkung der Tod der von Schöpfung ausgehenden Vernunft bzw. ihre kulturvernünftige, kreative (schöpferische) menschlichen Ausdrucksform für die gesamt Welt hatte, lässt sich im Geschichtsprozess bis zur Aufklärung, historisch nachvollziehen. Nur so lässt sich heute dies schöpferische Vernünfigkeit (als Ökologie, natürlich-ganzheitliche oder sozial nachhaltige Lebensweise, Weltvernünftigkeit/-ökonomie...) wieder ebenso aufgekärt verstehen, wie das kulturgerechte Gesicht, das nur noch einen abgeschriebenen Bart hat.

Aber da hier hier nur ein als Gottessohn geltender (für die meisten so hingestellter) historischer Heilsprediger mit Bart sein darf, scheint auch das "viele" sein Berechtigung haben.

Oder anders: Wie kann man allen Ernstes im 3. Jahrtausend wissenschaftlich darüber streiten wollen, ob Jesus für viele oder alle gestorben ist, wenn es den Verfassern nur um einen hingerichteten Wanderprediger gegangen wäre?
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Wie wahr Herr Prof. Häfner,

die Debatte über "pro multis" ist ein Lehrstück darüber, wie Texte wahrgenommen werden, dass man schon gar nicht mehr von wahrnehmen sprechen kann. Genau wie sagen, scheint es ein psychologisches Gesetz menschlicher Kultur zu sein, dass eingefressene Bilder wie Filter wirken, die nur noch durchlassen, was ins Bild passt.

Von einem rebellischen Freiheitskämpfer gegen Rom, der von Pauls abekoppelt und mit hellenisischen Lehren eingefärbt wurde, zusammen mit Johannes den Juden die Schurkenrolle zuspielte und den jungen Politikrebellen und Pharisäerschüler zum Helden und Heisbringer für die Welt machte, lese ich gerade bei einem angesehenen Talmudphilologen: "Der Mythenschmied - Paulus und die Erfindung des Christentums". Die Lieblingsbeschäftigung des Johannes sei es gewesen, diesen jungen Rebellen gegen Rom dann als Gott hinzustellen oder gar zu behaupten, sein Sterben würde die Sünden der Menschheit abgelten...

Wo nicht nach dem Wort/der von Schöpfung ausgehenden Vernunft allen Werdens gefragt wird, sondern nach einem jungen Schwätzer, wie es das Bild der heutigen Hochschullehre als historisch vorgibt, da wundert nicht, was der jüdische Gelehrte denkt. Da wird aber auch für die gesamte aufgeklärte Welt die Diskussion "pro Multis" zur dogmatischen Phrase.

Doch wenn ich beim Prof. für Judaistik (dank amazons bedarfsgerechten Empfehlungen) wieder was gelernt habe: Ein junger Jude, der mit seinen Fischerfreunden um den See zog... wie er heute als historisch gilt, der passt nicht ins Bild der damaligen Zeit. Dem hätte kein noch so blindglaubens-besoffener Prediger eine solche im AT bereits vorgegebene Theologie angehängt, wie Sie sie in Ihren Sonntagsevangelien verdeutlichen.

Das Denken und Suchen der Pharisäer dieser Zeit, die viele Optionen offen liesen ohne sich an den Text des Gesetzes zu klammern, im Licht des Verstandes einen Weltplan ergründen und mit der Tradition verbinden wollten... das alles passt nicht ins Bild, das heute vom historischen Jesus vermittelt wird, müsste die Wissenschaft zum Weiterfragen nach der historischen Wirklichkeit herausfordern.

Aber wie Sie sagen, scheint es ein psychologisches Problem zu sein.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Das Feindbild des Juden ist klar: Jesus war ein junger Rebell, der das Gottesreich predigte, sich als König Israels aufspielte und scheiterte, in Wirklichkeit weder ein Heilsereignis für viele noch alle gewesen ist.

Daher sind kath. Wissenschaftler gefragt: Deutlich zu machen, warum der historische Jesus eine schöpferische Vernunft-Wirklichkeit in kulturvernüftiger Ausdrucksweise bzw. menschlicher Person (Rolle/Aufgabe), so erst ein Heilsergeinis für die Welt war und kein verherrlichter religiöser Schwätzer.
Gerd Häfner hat gesagt…
Sehr geehrter Herr Mentzel, mir ist nicht bekannt, dass historische Jesusforschung Jesus als „jungen Schwätzer“ darstellen würde. Außerdem bietet sie gerade Anhaltspunkte, um auf historischem Weg das Bild des politischen Rebellen zu destruieren. Im Übrigen wüsste ich nicht, was ich Ihnen noch antworten könnte, ohne mich zu wiederholen. Sie bringen Ihre Statements zur schöpferischen Vernunft („Wo nicht nach dem Wort/der von Schöpfung ausgehenden Vernunft allen Werdens gefragt wird ...“) und zur Unmöglichkeit, dass die urchrisztliche Verkündigung einen jungen jüdischen Heilsprdiger gemeint sein könne; ich verweise auf die Texte, die von einem jungen, jüdischen Heilsprediger und dessen Geschick bis zum Tod am Kreuz erzählen und ihn als Auferweckten christologisch deuten. Ich habe den Eindruck, jeder hat dazu gesagt, was er sagen kann, ohne den anderen von seiner Sicht zu überzeugen. Ich für meinen Teil bin bereit, das zu akzeptieren.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Ich nicht Herr Prof. Häfner,

denn ich bin aufgrund des heutigen Wissens gewiss, dass der historisch/hoheitliche Jesus lebt: Die schöpferische Vernunft-Wirklichkeit/Sinnhaftigkeit in wissenschaftlicher weltbeschreibung wahrnehmbar wäre und im aufgeklärten Verständnis des historischen Wesens Jesus bzw. des Grundes westlicher Kultur, diese von Schöpfung ausgehende Vernunft erst kulturelle Bedeutung erlangt, auf mündige Weise das als ökologisch, weltverünfig, sozial nachhaltig erkannte oder selbst für unsere Gesundheit bzw. den eigenen Köper vernüftig gesehene, zur gelebte Wirklichkeit wird.

Diese Arbeit bin ich nicht nur meiner christlichen Wurzel schuldig, der ich meinen Wohlstand verdanke und die im heutigen Verständnis des historischen Jesus völlig belanglos, private Religiösität aufgrund alter Buchstaben und pesönlicher Bauch-Gefühle geworden ist, sondern auch meinen/unseren Enkelkindern.

Denn diese sind darauf angewiesen, dass im Sonntagsevangelium nicht nur eine Theologie über einen jungen Rebellen ausgeschüttet wird, der als heilsbringenden Gottessohn geglaubt werden soll, aber für die heutige Welt nur ein wundertätgier Schwätzer war. Sondern das schöpferische Wort und die Bedeutung des kulturgerechten Bildes/menschlichen Ausdruckes verstanden, diese Vernunft gelebte als kulturgerechte schöpferiche Bestimmung Wirklichkeit wird.

Doch genau darum bemühe ich hier nicht die verneinende historische Kritik, nach der alles zum leeren Kirchenkonstrukt wird, das einem Wanderguru aufgesetzt wurde, sondern die Texte und die daraus abgeleitende theologischen Bedeutung, auf die Sie sich beziehen.

Oder liege ich falsch. War das alles nur frühchristlicher Schwindel der einem Wanderprediger aufgesetzt wurde, ohne schöpferische Wirklicheit, rein religöse Rhetorik?

Doch "Gott sei Dank" habe ich noch keine einzige Entkräftung meiner immer wieder vorgebrachten Argumente gehört, die deutlich machen, dass am Anfang nicht der gestanden haben kann, der heute als historicher Jesus gilt. Vielmehr die von Schöpfung ausgehende Vernunft in kulturgerechter Person (Rolle/Aufgabe) das Thema gewesen sein muss, das den biblischen Bilder zugrunde liegt, deren Bedeutungsinhalte Sie in Ihren Sonntagsevangelien erklären.

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