»Pro multis«

In diesen Tagen sorgte ein Brief von Papst Benedikt für Aufsehen. In ihm forderte er die deutschen Bischöfe auf, endlich die angemahnte Änderung in der Übersetzung von »pro multis« in den Kanongebeten der heiligen Messe durchzuführen. Als wichtigstes Motiv erscheint die Einheit des eucharistischen Gebets in der Weltkirche wie auch in den deutschsprachigen Bistümern, in denen der Papst für das neue Gotteslob eine uneinheitliche Regelung kommen sieht. Ziel des Briefes ist, »einer Spaltung im innersten Raum unseres Betens zuvorzukommen«. Ich empfinde das Schreiben als behutsam und werbend, ohne scharfe Töne. Und da der Brief klarstellt, dass keine theologische Restauration mit der geforderten Änderung der Übersetzung verbunden ist, kann man in der Sache ganz unaufgeregt bleiben. Die folgende Reaktion bezieht sich auf einige Aspekte der Begründung, die mir aus neutestamentlicher Sicht nicht in allem geglückt scheint.

Treue zum Wort des Herrn?

Dazu zählt vor allem der Hinweis, die Übersetzung mit »viele« sei Ausdruck der Treue zum Wort des Herrn. Was ist hier genau gemeint? Ein historisches Urteil im eigentlichen Sinn kann kaum angezielt sein. Aus den unterschiedlich überlieferten Abendmahlsworten kann man mit Mühe (und ohne Hoffnung auf exegetischen Konsens) eine möglichst ursprüngliche Fassung rekonstruieren - der genaue Wortlaut dessen, was Jesus im Abendmahlssaal gesagt hat, ist historisch nicht erreichbar. Dies dürfte auch kaum im Sinn der Gestaltung des liturgischen Textes liegen. In ihm ist auch die matthäische Besonderheit aufgenommen, dass das Blut Jesu zur Vergebung der Sünden vergossen werde. Dieser Zusatz lässt sich am besten der redaktionellen Tendenz des Evangelisten zuschreiben, denn er fügt hier ein, was er bei der Charakterisierung der Taufe des Johannes gestrichen hat: dass sie zur Vergebung der Sünden geschehen sei (vgl. Mt 3,11 mit Mk 1,4). Ein im eigentlichen Sinn historisches Urteil also ist mit dem Bezug auf die Worte des Herrn nicht angezielt.

Lässt sich die verhandelte Begründung so verstehen, dass die Treue zum Wort des Herrn, wie es in der Schrift überliefert ist, gemeint ist? Auch dies ist nicht ohne Schwierigkeiten. Dies gilt zum einen prinzipiell: Die Addition verschiedener Texte ergibt eine neue Größe, die in dieser Form nicht schriftgemäß ist. Das Neue Testament kennt zur Abendmahlstradition zwei Überlieferungsstränge: ähnlich sind sich die Fassungen bei Markus und Matthäus (Mk 14,22-25; Mt 26,26-29), während Lukas zwar auch Nähe zu diesen Texten aufweist (Lk 22,16-20), daneben aber auch Eigenheiten hat, die seine Version mit dem bei Paulus überlieferten Text verbinden (1Kor 11,23-26). Die liturgische Gestalt der Abendmahlstradition stellt eine Version dar, die in dieser Form nicht in der Schrift zu finden ist. Dies betrifft aber nicht nur die Reihung einzelner Textbausteine, sondern auch den Wortlaut der Worte Jesu. Die Formulierung »Das ist der Kelch des neuen und ewigen Bundes« findet sich in keinem der genannten Stränge. Bei Paulus und Lukas heißt es: »Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut«. Die Rede vom ewigen Bund ist also auch nicht Übersetzung des biblischen Textes, ebenso wenig wie die Versetzung des Bundes in ein Genitiv-Attribut zu »Kelch«.

Neue Zusammenhänge

Diese Beobachtungen sind nicht als Kritik am liturgischen Text zu verstehen. Sie zeigen nur, dass es angesichts der Differenzen in der Überlieferung schwierig ist, die Treue zum Wort des Herrn zum Maßstab der textlichen Gestaltung zu machen. Dazu kommt aus neutestamentlicher Sicht ein weiteres Problem. Durch die gegenwärtige Diskussion entsteht eine Gegenüberstellung von viele und alle. Diese Opposition bestimmt die Verwendung von viele (πολλοί) im Neuen Testament gerade nicht: nicht dass viele weniger sind als alle, ist entscheidend, sondern die Gegenüberstellung zu dem Einen. Ein solcher Zusammenhang findet sich im Blick auf die Heilswirkung des Todes Jesu in Röm 5,18f und in 1Kor 10,16f. In beiden Fällen wird mit »die Vielen« ein Ganzheitsbegriff verwendet. In Röm 5,19 bezieht er sich im Rahmen der Adam-Christus-Typologie universal auf die Menschheit: »die Vielen« sind durch den Ungehorsam des Einen, Adam, als Sünder eingestuft worden; durch den Gehorsam des Einen, Christus, dagegen als Gerechte. Im vorauslaufenden parallelen Satz wird anstelle von »die Vielen« von »allen Menschen« gesprochen. In 1Kor 10,16f ist der Bezugspunkt der Ganzheit die versammelte Gemeinde: »die Vielen« werden durch die Teilhabe an dem einen Brot zu einem Leib (vgl. dazu Michael Theobald, »Pro multis« - Ist Jesus nicht für alle gestorben?, in: M. Striet (Hg.), Gestorben für wen? Zum Streit um das 
»pro multis«, Freiburg 2007, 29-54, hier: 38-40). Wenn die Übersetzung mit »für alle« deshalb abgelehnt wird, weil die allen geltende Sühnewirklung des Todes Jesu (aufgrund der nötigen Mitwirkung des Menschen) de facto nicht bei allen ankomme und Jesus, wie es im Brief des Papstes heißt, »geschichtlich in der konkreten Gemeinschaft derer, die Eucharistie feiern, ... nur zu ‘vielen’« komme, ist ein Gedanke eingebracht, der vom Neuen Testament her mit der strittigen Wendung nicht verbunden ist. Hier zeigt sich, dass auch eine wörtliche Übersetzung eine bestimmte Auslegung transportieren kann, die vom biblischen Text eher wegführt.


Zwar wird die semantische Gleichsetzung von πολλοί (viele) und πάντες (alle), auf der die nun zu revidierende Übersetzung des liturgischen Textes beruhte, heute nicht mehr vertreten. Dies hält der Papstbrief zurecht fest. Aber daraus folgt nicht, dass das Entscheidende an der Rede von viele darin liegt, dass es sich um weniger als alle handelt. Im vierten Gottesknechtslied (Jes 53), das gewöhnlich im Hintergrund von Mk 14,24 (wie auch des Lösegeldwortes Mk 10,45) gesehen wird, ist unser (Ganzheits-)Begriff am besten auf die Gesamtheit Israels zu beziehen: Israel stand dem Gottesknecht feindlich gegenüber und war doch Nutznießer seines stellvertretenden Sterbens (deutet man den Gottesknecht kollektiv auf Israel, kommt man kaum um eine universale Nuance in der Heilswirkung des Sterbens dieses Knechtes herum: 53,11f müsste dann mit den vielen Völkern aus 52,14f korreliert werden).

Neutestamentliche Weiterführung


Im Laufe der urchristlichen Überlieferung ist dieser Israel-Bezug allerdings im Blick auf die Völker universal erweitert und in diesem Sinn auch sprachlich eindeutig gefasst worden. So gibt Jesus nach Joh 6,51c sein Fleisch für das Leben der Welt; und in 1Tim 2,6 ist das Lösegelwort aus Mk 10,45 entsprechend verändert worden: »... der sich gegeben hat als Lösegeld für alle Hier bestätigt sich: Wer die Rückkehr zur Übersetzung mit »viele« darin begründet, dass es nicht um »Zwangsbeglückung« gehe, die Teilnahme an der Kommunion »keinen Heilsautomatismus« bewirke (s. hier), orientiert sich am Gegensatz von viele und alle, aber nicht an neutestamentlichen Sinnlinien zur Deutung des Todes Jesu. 
Wenn uns, wie gesehen, der Weg zu einer getreuen Aufnahme der Abendmahlsworte, zu einer Wiederholung der Worte Jesu, verschlossen ist, könnte auch diese innerneutestamentliche Karriere der Aussagen zum Sinn des Todes Jesu in die Überlegungen einbezogen werden. Im Blick auf das Neue Testament scheint eine Wiedergabe mit »für euch und für alle« jedenfalls nicht weniger treu zu sein als die nun geforderte Revision.

Gründe für die Übersetzung mit »für viele« 

Gründe für eine Rückkehr zu der Übersetzung »für viele« liegen weniger in der Treue zum neutestamentlichen Text als in anderen Zusammenhängen: die Einheit kirchlichen Betens; die Möglichkeit den Bezug auf Jes 53 zu markieren; die Praxis anderer Kirchen; vielleicht auch die Herausforderung, die entsteht durch den Blick auf die vielen einzelnen, denen neben den Mahlteilnehmern das Für des Todes Jesu ebenfalls gilt (s. dazu Norbert Lohfink explizit.net). Auch wer meint, der Aufwand zur Klärung sei angesichts der Tatsache, dass sich theologisch nichts ändert, etwas hoch, könnte diese Gründe akzeptieren.


Irreführend, weil eine nicht gegebene Eindeutigkeit suggerierend, aber ist der Hinweis, mit der Änderung würden »nur noch die authentischen Worte Jesu beim letzten Abendmahl benutzt« (so Paul Badde in der Welt). Am Ende desselben Beitrags wird die mit dem päpstlichen Entscheid gegebene »Entideologisierung der Liturgie« begrüßt. Dies bleibt zunächst als Rätselwort stehen. In einem Folgebeitrag klärt sich, dass der Autor das, was er für nachkonziliare Fehlentwicklungen in Theologie und Liturgie hält, in starkem Maß auf die Formulierung »für alle« zurückführt.


Man könnte das auch »Ideologisierung einer Formel« nennen.

Kommentare

Volker Schnitzler hat gesagt…
Vielen DAnk für diesen äußerst präzisen und unaufgeregten Beitrag zu der Debatte um die "pro multis"!
Stefan Kraft hat gesagt…
Da ich als theologischer Laie auch erst (fälschlicherweise) davon ausging, es solle plötzlich ein ausgrenzender Heilsanspruch eingeführt werden, bin ich für die jetzt herrschende Debatte dankbar: Sie hilft zu verdeutlichen, dass weiterhin "alle" gemeint sind.
Roland Breitenbach hat gesagt…
Wenn 'alle' gemeint sind,
dann sollte man auch 'alle' sagen.
Ich befürchte,
'pro multis' ist mehr ein faules Entgegenkommen zu den umworbenen Piusbrüdern.
Gerhard Mentzel hat gesagt…
Ich kann nachvollziehen, dass der Papst auf eine einheitliche Sprache in der Kirche bedacht ist. Das war m.E. auch die Erfolg am Anfang von Kanon und Kirche.

Doch auch die Debatte führt mich wieder zu der Frage: Wieso wir als aufgeklärte Menschen darüber nachdenken, ob Jesus für "alle" oder nur "viele" gestorben ist, wenn doch angeblich nur ein hingrichteter Heilsprediger historisch war?

Oder geht das Kirchenoberhaupt wieder mal nicht vom historischen Jesus aus, sondern dem biblischen Jesus bzw. hoheitlichen Wesen, wie es ihm seine Kollegen aufgrund der beiden Jesusbücher als Rede von einer phil. bedachten schöpferischen Vernunft unterstellen?
Hannes hat gesagt…
@ Roland Breitenbach:
Die Piusbrüder interessiert das doch gar nicht. Die lehnen doch die Liturgiereform und jede landessprachliche Messfeier eh ab. Zudem im lateinischen Messformular hieß es schon immer "pro multis". Es ist eben eine Übersetzungsfrage. Und die ersten Dokumente, die eine Übersetzung "für viele" nahelegen kamen aus der Gottesdienstkongregation vom Jahr 2001, also lange bevor das Thema Piusbruderschaft so im Fokus stand, wie jetzt.
Herr Prof. Häfner an Sie hätte ich noch eine Frage: Gibt es einen Unterschied zwischen "die Vielen" und viele? Denn soweit ich weiß haben manche Bischöfe vorgeschlagen "für die Vielen" zu übersetzen, was aber auch kritisiert wurde. Und deshalb ist mir in Ihrem Beitrag aufgefallen, dass Sie nicht unterscheiden zwischen "die Vielen" und viele.
Gerd Häfner hat gesagt…
@Hannes
Ich sehe im Blick auf die Stellen, die hier zu diskutieren sind, keinen sachlichen Unterschied zwischen der Formulierung mit und ohne Artikel. Wenn es heißt, dass der Menschensohn sein Leben als Lösegeld »für viele« gibt (Mk 10,45); dass das Blut Jesu ausgegossen wird »für viele« (Mk 14,24), dann ist damit nicht ausgedrückt: es sind nicht nur wenige. Auch nicht: es sind weniger als alle. Vielmehr ist vom alttestamentlichen Hintergrund her der Bezug auf eine gegebene Gesamtheit entscheidend. Der Vorschlag, die Einsetzungsworte mit »für die Vielen« wiederzugeben, gründet wohl darin, dass die genannten irreführenden Konnotationen (»nicht nur wenige«; »weniger als alle«) in der deutschen Übersetzung ohne Artikel mitschwingen können. Die Formulierung mit Artikel könnte ein solches Missverständnis verhindern, indem es eine im Deutschen ungewohnte, aber durchaus biblische Ausdrucksweise einbringt (auch im Blick auf die Bedeutung des Todes Jesu: s. Röm 5,18f). Als Übersetzung von »pro multis« ließe sich das rechtfertigen, weil das Lateinische keine Artikel kennt. Und da es in den liturgischen Formulierungen, wie im obigen Beitrag ausgeführt, nicht darum gehen kann, die Worte Jesu möglichst genau zu wiederholen, scheint mir der Vorschlag, mit »für die Vielen« zu übersetzen, bedenkenswert.

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